Die Frau trägt ein gelbes Tüllkleid, einen Strohhut und eine Sonnenbrille. Sie läuft langsam auf dem Steg auf und ab, schaut verträumt mal nach links, mal nach rechts. Dann sitzt sie am Rand des Stegs, blickt auf den Brienzersee und über die Schulter wieder direkt in die Kamera. Ihre Begleiterin fotografiert sie dabei.
Es ist die perfekte Inszenierung: Der See glitzert türkis, die Sonne strahlt am Himmel, in der Ferne sind die Berge des Berner Oberlands zu erkennen. Eine gute Viertelstunde dauert dieses Fotoshooting nun bereits. Die beiden Frauen machen aber nicht den Eindruck, als seien sie bald fertig. Und das, obwohl am Ufer von Iseltwald, hinter dem Drehkreuz, bereits die nächsten Touristen warten.
„Crash Landing on You“ löst Hype aus
2019 erschien auf der Streamingplattform Netflix eine koreanische Serie, die den Tourismus hier auf den Kopf stellen sollte. „Crash Landing on You“ erzählt die Liebesgeschichte von Yoon Se-ri und Ri Jeong-hyeok. Sie ist Südkoreanerin, er lebt in Nordkorea, durch Zufall treffen sie aufeinander. Eine Romanze beginnt, die sich über 16 Folgen zieht.
Drehorte der Serie finden sich auch in der Schweiz – unter anderem in Iseltwald, einer kleinen Gemeinde nicht weit von Interlaken im Kanton Bern. Auf dem Steg, auf dem die beiden Frauen gerade Fotos machen, sitzt in der Serie die Hauptfigur und spielt Klavier.
Iseltwald war schon immer ein beliebter Ferienort
„Crash Landing on You“ wird zum Hit, nicht nur in Korea, sondern auch in vielen anderen asiatischen Ländern. Und die Fans wollen an die Drehorte reisen. Deswegen kommen sie nach Iseltwald.
Iseltwald ist ein idyllisches kleines Dorf. Gerade einmal 420 Menschen wohnen hier. Vom Parkplatz am Ortsrand schlängelt sich ein asphaltierter Feldweg hinunter an den See und zum Dorfplatz. Der Weg führt vorbei an urigen Häusern mit Holzfassade und Blumenkästen voller Geranien. Ein kleiner Bach plätschert vor sich hin.
Infrastruktur nicht für Menschenmengen ausgelegt
„Iseltwald war schon immer ein beliebter Ferienort“, sagt Titia Weiland. Sie ist Geschäftsführerin des Vereins Bönigen-Iseltwald Tourismus. Der Andrang, den das Dorf seit fünf Jahren erlebt, sei aber außergewöhnlich. „In der Region wurden schon viele Filme gedreht, aber es kamen noch nie so viele Menschen“, sagt Weiland.
Die Infrastruktur des Dorfs sei sehr schnell an ihre Grenzen geraten. Plötzlich seien Reisebusse voller Touristen im Dorf gewesen, hätten sich gegenseitig die Parkplätze weggenommen. „Die Busse kamen gar nicht mehr raus aus Iseltwald“, sagt Weiland.
Seit 2023 gibt es das Drehkreuz
Es sei klar gewesen, dass etwas unternommen werden müsse. Der Gemeinderat beschloss schließlich, ein Drehkreuz vor dem Steg einzurichten. Seit 2023 müssen Touristen, die Bilder auf dem berühmten Steg machen möchten, fünf Franken zahlen.
Zwei junge Frauen, die zu den Fans von „Crash Landing on You“ gehören, sind Charlene und Casie aus Hongkong. Sie sind mit dem Schiff angereist, das gerade in Iseltwald angelegt hat. Dutzende Touristen sind ausgestiegen, die meisten von ihnen strömen direkt zum Steg und dem kleinen Platz davor. Handys und Kameras werden gezückt, die Aussicht eingefangen.
Reise mit ChatGPT geplant
Während die Frau in dem gelben Tüllkleid auf dem Steg noch ganz in ihren Fotos versunken ist, plappern Charlene und Casie aufgeregt vor sich hin und klatschen vorfreudig in die Hände. „Wir lieben die Serie“, sagt Charlene. „Jetzt wollen wir unseren Traum in die Wirklichkeit umsetzen und uns genauso fühlen wie die Schauspieler.“
Die fünf Franken sind für sie deshalb kein Problem. Zehn Tage verbringen Charlene und Casie in der Schweiz, vier Tage haben sie bereits hinter sich. „Casie hat unsere Reise mit ChatGPT geplant“, sagt Charlene und lacht.
245.000 Franken Einnahmen
Im vergangenen Jahr hat die Gemeinde Iseltwald mit dem Drehkreuz 245.000 Franken eingenommen. 50.000 Menschen haben also den Steg betreten, sagt Titia Weiland. Das Geld fließe zu 100 Prozent in die Gemeinde zurück, diene der Instandhaltung und dem Beseitigen von Abfall.
Wie viele Tagestouristen nach Iseltwald kommen, könne man nicht genau sagen, denn längst nicht jeder nutze das Drehkreuz. „Wir schätzen, es sind 1000 pro Tag“, sagt Weiland.
„Das Drehkreuz selbst hat nicht so viel zur Beruhigung beigetragen“, sagt Weiland. Ein neues Parksystem für die Busse sei viel wichtiger: Reisebusse müssen einen Parkplatz in Iseltwald online reservieren. Ohne Ticket dürfen sie nicht in den Ort einfahren. Damit sich jeder daran hält, kontrolliert Sicherheitspersonal den Zugang zum Dorf.

Eine Dreiviertelstunde Warten
Viele Touristen kommen auch mit Linienbussen oder mit dem Schiff. Die Linienbusse seien nun ebenfalls sehr voll, sagt Titia Weiland. Das stoße auf Unmut bei den Einheimischen, gleichzeitig würden sie auch von der besseren Taktung des öffentlichen Nahverkehrs profitieren.
Am Drehkreuz haben es Charlene und Casie nach einer Dreiviertelstunde Wartezeit endlich auf den Steg geschafft. Charlene hat ihre Schuhe ausgezogen, barfuß sieht das Foto in dieser vorgetäuschten Einsamkeit einfach besser aus als mit den Sportschuhen. „Wir sind so glücklich“, sagt Casie, als die beiden den Steg verlassen. „Das Warten und das Geld haben sich gelohnt.“
Auch am Ufer werden Fotos gemacht
Die Schwestern Julia und Kathy, ebenfalls aus Hongkong, reisen zwei Wochen mit ihren Eltern durch die Schweiz. Für „Crash Landing on You“ haben sie den Ausflug nach Iseltwald geplant. „Die Serie ist so romantisch“, sagt Julia, die sich als großen Fan bezeichnet. „Und das besondere ist, dass die Darsteller im echten Leben auch zusammenkamen.“
Auf den Steg wollen sie aber nicht gehen. „Es gibt kein Piano, deshalb muss ich da nicht hin“, sagt Julia. Es reiche ihr, sich die Landschaft vom Ufer aus anzusehen. Gerade positioniert sie sich am Wasser, ihr Vater steht ihr gegenüber.
Ihre Schwester Kathy hält zwei Handys in der Hand, mit dem einen gleicht sie eine Szene aus der Serie ab, mit dem anderen schießt sie Fotos. „Es ist der Moment, in dem sich die Hauptfiguren kennenlernen“, sagt Julia. „Mein Vater muss für den männlichen Part einspringen.“
Keine typischen Touri-Läden
Abseits des Ufers ahnt man kaum etwas von den vielen Touristen, die nur wegen des Stegs nach Iseltwald kommen. Die typischen Tourismusläden findet man hier nicht. Nur einen kleinen Dorfladen gibt es neben der Bushaltestelle. Ein Aushang bewirbt eines der wenigen Hotels. „Übernachte im gleichen Zimmer wie der Hauptdarsteller von CLOY“, ist dort zu lesen. CLOY, das steht für „Crash Landing on You.“

Das Hotel Chalet du Lac befindet sich nicht direkt am Dorfplatz. Man muss ein kurzes Stück zu Fuß laufen, um dorthin zu kommen. Hier ist es deutlich ruhiger, nur noch wenige Tagestouristen verirren sich in diese Ecke des Dorfs.
Dorf hat sich kaum verändert
In der Rezeption des Hotels Chalet du Lac empfängt Sandra Mannertz die Gäste. „Grüezi“, sagt sie und lächelt. Mannertz stammt gebürtig aus Trier und ist 1984 an den Brienzersee gezogen. „Früher kam am Tag ein Bus, heute sind es vielleicht zehn“, sagt sie. „Zu jedem Wetter, im Sommer und im Winter stehen die Menschen auf dem Steg und machen Fotos.“
Dann nimmt sie sich einen Zimmerschlüssel und führt durch die Flure des Chalets zu dem Zimmer, in dem der Hauptdarsteller von „Crash Landing on You“, Hyun Bin, übernachtet hat.
„Ich finde die Serie ja total kitschig“, sagt Mannertz und lacht. Trotz des Wirbels um „Crash Landing on You“ habe das Dorf seinen Charme behalten. „Das ist das Schöne an Iseltwald. Bis auf ein paar neue Häuser hat es sich hier null verändert in den letzten 50 Jahren.“ Jetzt schließt sie die Tür auf. Das Zimmer ist erstaunlich klein, darin steht ein Doppelbett aus Holz. Der Balkon bietet einen Ausblick auf eine kleine Bucht. 250 Franken kostet hier eine Nacht.
Schweizer genießen die Ruhe abseits des Stegs
Das CLOY-Zimmer sei aber nicht übermäßig angefragt. In das Hotel kämen viele Schweizer, die die Ruhe rund um Iseltwald genießen, um zu wandern oder Fahrrad zu fahren. „Bis Ende September sind wir komplett ausgebucht“, sagt Mannertz. Abseits des berühmten Stegs sei es sehr ruhig im Dorf. Das wüssten die Menschen zu schätzen.
„Wir haben nicht ein einziges Mal Werbung mit der Serie gemacht“, sagt Titia Weiland. „Das war uns von Anfang an wichtig.“ Zu überwältigend seien die Menschenmengen für die kleine Gemeinde gewesen. Stattdessen versuche der Tourismusverein, die Touristen nach Iseltwald zu bringen, die länger als nur für ein kurzes Foto bleiben möchten.

Der Hype reißt nicht ab
„Iseltwald ist einer der schönsten Orte, die es hier gibt“, sagt Titia Weiland. „Und es gibt rund um das Dorf viele Orte, an denen man praktisch allein ist.“ Die Hotels im Ort würden sich wegen zu wenig Gästen nicht beklagen. Mehr als 50.000 Übernachtungsgäste kamen 2023 in die Hotels, Ferienwohnungen und auf den Campingplatz.
Fünf Jahre nach Erscheinen von „Crash Landing on You“ nimmt die Begeisterung über den berühmten Steg nicht ab. Kürzlich sei eine Frau aus Malaysia in der Touristeninformation gewesen, erzählt Titia Weiland. „Sie sagte, sie hat nun fünf Jahre für diese Reise gespart und sie ist die erste aus ihrem Bekanntenkreis, die nun angereist ist. Viele ihrer Freunde und ihre Familie wollen auch noch kommen.“