Gemächlich bahnt sich ein Amurtiger den Weg durch sein Gehege. Gelegentlich bleibt er stehen, schnuppert intensiv an einem Busch, bevor er seinen Weg fortsetzt.

Zum Schnuppern hat der Tiger vieles. Da wäre etwa die große Portion Fleisch, angebunden an einen Baum.

Das neue Großkatzen-Areal im Zoo Zürich: Auf dem „Catwalk“ sollen die Großkatzen gute Aussicht haben.
Das neue Großkatzen-Areal im Zoo Zürich: Auf dem „Catwalk“ sollen die Großkatzen gute Aussicht haben. | Bild: Marina Schölzel

Aber auch andere Gerüche liegen in der Luft: die seines Feindes. Oder besser gesagt, die von den anderen Großkatzen des Zoos in Zürich, vom weiblichen Tiger etwa, oder von den Schneeleoparden. Diese waren vorher nämlich in seinem Gehege. Sein Revier muss der Tiger jetzt wieder neu markieren um abzusichern, dass er noch der Herr im Haus ist.

Ein abwechslungsreicher Alltag

Nach rund zweijähriger Bauzeit wurde im Zürcher Zoo das neue Großkatzen-Gehege „Panthera“ eröffnet, mit neuem Prinzip. Für die Großkatzen gibt es vier Teilbereiche: Trockenwald, Gebirge, Lichtung und Laubwald. Diese Teilbereiche teilen sich die Großkatzen miteinander. Natürlich nicht gleichzeitig, sondern abwechselnd, im rotierenden Turnus.

Das Herumschnüffeln hat ihn müde gemacht: ein Amurtiger in der Mittagspause.
Das Herumschnüffeln hat ihn müde gemacht: ein Amurtiger in der Mittagspause. | Bild: Marina Schölzel

In unregelmäßigen Abständen ziehen Löwe, Tiger und Leopard von Gehege zu Gehege. Ein Tiger haust beispielsweise ein paar Wochen im Gebirge, das vorher der Schneeleopard besiedelt hat. Das Prinzip soll bei den Großkatzen „positiven Stress“ auslösen, wie Zoodirektor Severin Dressen gegenüber dem SÜDKURIER erklärt.

Severin Dressen ist Zoo-Direktor des Zoo Zürichs.
Severin Dressen ist Zoo-Direktor des Zoo Zürichs. | Bild: Marina Schölzel

Jedes Mal, wenn die Tiere den Bereich wechseln, seien sie neuen Gerüchen ausgesetzt, müssen im neuen Revier auf der Hut vor einem potenziellen Konkurrenten sein und ihr Revier neu markieren. Das soll für die Tiere eine Herausforderung darstellen und für einen abwechslungsreichen Alltag sorgen.

Seilbahn soll für Jagdspaß sorgen

Das „innovative Tierhaltungskonzept“ des Zoos, wie Severin Dressen sagt, birgt außerdem eine weitere Neuerung: Im Teilabschnitt Gebirge müssen die Großkatzen ihr Futter selbst jagen.

An der Seilbahn wird das Fleisch befestigt und mit bis zu 40 Kilometer pro Stunde durch das Gehege gezogen.
An der Seilbahn wird das Fleisch befestigt und mit bis zu 40 Kilometer pro Stunde durch das Gehege gezogen. | Bild: Marina Schölzel

Das funktioniert per elektrischer Seilbahn – und Knopfdruck. „Die Tierpfleger haben eine Art Joystick in der Hand und können das steuern“, erklärt Dressen.

Mit bis zu 40 Kilometern pro Stunde saust das Futter durch das Gehege. Laut dem Zoodirektor hätten die Tiere nur wenige Sekunden Zeit, um einen Jagderfolg zu erzielen. Schaffen sie das nicht, verschwindet das Futter wieder, die Tiere gehen leer aus. Das klingt fies, hat aber einen Sinn: „Fasten gehört zum Alltag der Großkatzen, auch in der Natur scheitern sie bei der Jagd in neun von zehn Fällen“, erklärt Dressen.

Die Schneeleoparden im Zoo entspannen sich – oder warten, bis es das nächste Mal Futter per Seilbahn gibt.
Die Schneeleoparden im Zoo entspannen sich – oder warten, bis es das nächste Mal Futter per Seilbahn gibt. | Bild: Marina Schölzel

Das neue Konzept soll die Tiere körperlich und geistig fördern, der Zoo Zürich habe den Anspruch, die Tierhaltung immer weiter zu optimieren und Innovationen voranzutreiben.

Die Kritik von Tierschutzorganisationen wie etwa Peta, Tiere in Gefangenschaft könnten kein erfülltes Leben haben, weist er von sich. Verschiedene Tierarten hätten verschiedene Bedürfnisse, sagt Dressen. Darunter sei aber kein Bedürfnis nach Freiheit, das sei ein menschliches Konstrukt. Vielmehr hätten die Tiere ein „enormes Sicherheitsbedürfnis“, welches der Zoo stillen könnte.

Die Anlage soll demnach den Bedürfnissen der Großkatzen gerecht werden: „Das Konkurrenzverhalten und der Jagdinstinkt können wir im Zoo ideal simulieren“, sagt Dressen.

Tiere in Zoos leben länger

Natalia Borrego ist Biologin am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Konstanz. Dass das Wohlergehen der Tiere im Zoo durch eine anregende Umgebung verbessert wird, sei wissenschaftlich erwiesen, sagt sie.

Der Begriff „artgerechte Haltung“ sei schwer zu definieren, Zoos könnten die Großkatzen jedoch so halten, dass deren Bedürfnisse erfüllt werden, wie soziale Anregung, gute Ernährung und eine Umgebung mit wenig Stress. „Es mag überraschend klingen, aber Großkatzen im Zoo werden oft älter als ihre Artgenossen in freier Wildbahn“, sagt Borrego.

Natalia Borrego ist Biologin am Max-Planck-Institut Konstanz und stammt aus den USA.
Natalia Borrego ist Biologin am Max-Planck-Institut Konstanz und stammt aus den USA. | Bild: privat

Natürlich seien viele Herausforderungen, denen Wildtiere in freier Wildbahn ausgesetzt sind, in einem Zoo unzumutbar: Unbehandelte Verletzungen, extreme Hitze, Wassermangel oder Verhungern könnte man nicht replizieren.

Zoos würden sich stattdessen bemühen, sowohl die psychischen als auch physischen Bedürfnisse der Tiere zu erfüllen und das ohne Leid. „Auch wenn Zoos das Leben in der Wildnis nicht vollständig nachbilden können, können sie den Tieren dennoch ein komfortables und sicheres Leben bieten“, findet die Biologin.

Borrego habe mehr als ein Jahrzehnt Forschung sowohl an Großkatzen im Zoo, als auch in der Wildnis geforscht. Dabei habe sie nicht feststellen können, dass Großkatzen im Zoo unzufriedener sind als ihre freien Artgenossen. „Wenn sie die Wahl zwischen einer gut gestalteten Zooumgebung und dem Leben in der Wildnis hätten, bin ich mir nicht sicher, ob sich eine Großkatze für die Wildnis entscheiden würde. Aber da wir die Tiere nicht selbst fragen können, bleibt diese Frage wohl letztlich unbeantwortet.“

Löwinnen sind noch zögerlich

Rund neun Millionen Franken hat der Umbau des Geheges in Zürich gekostet. Ob das Konzept funktionieren und die Großkatzen die Idee annehmen würden, wusste vorher niemand.

Die Löwinnen zumindest seien noch zögerlich: Hier fehle noch der Mann für das Sicherheitsgefühl, erklärt Dressen. Die männliche Verstärkung soll im Juni einziehen. Tiger und Schneeleopard machen bisher aber gut mit. „Gezwungen wird natürlich niemand, aber das Leckerchen macht es attraktiv.“ Inzwischen haben aber auch die Löwinnen laut Zoo das erste Mal den Bereich gewechselt.

Außerdem stehen die Großkatzen aufgrund ihres früheren Zuhauses in anderen Zoos noch zu gut im Saft, sagt Dressen: Damit sie richtig Lust auf‘s Jagen mit der Seilbahn bekommen, müssen sie noch etwas abspecken.