Schon auf dem Weg zum Zürcher Hallenstadion zeigt sich, dass dieser Abend ein gesellschaftliches Großereignis werden wird. Bereits von Weitem erkennt man die Fans, die scharenweise zu ihrem Idol pilgern, an ihren Outfits. Pink, Glitzer, Krönchen, Cowboystiefel und -hüte, soweit das Auge reicht. Häufig auch einfach alles zusammen kombiniert. Die Kleiderordnung ist Teil des Programms, immerhin geht es heute um die selbst gekürte Midwest Princess, wie sich Chappell Roan auf ihrem aktuellen Album betitelt. Dementsprechend groß ist die Vorfreude. Alle sind aufgeregt, ihre Heldin endlich live zu sehen.
Chappell Roan ist derzeit eines der größten Phänomene am Pophimmel – um eine weitere ihrer Wortschöpfungen zu verwenden. Regelrecht aus dem Nichts schien die junge Sängerin 2023 aufgetaucht zu sein. Die 27-Jährige, bürgerlich Kayleigh Rose Amstutz, gilt als eine der spannendsten Stimmen der jüngeren Popgeschichte. Doch die Geschichte Roans ist keinesfalls ein Über-Nacht-Erfolg.
Nach Jahren des Suchens und des Scheiterns – 2017 bei Atlantic Records unter Vertrag, bald darauf wieder fallengelassen – begann sie 2022, als unabhängige Künstlerin Fahrt aufzunehmen. Zunächst nur als Vorband auf Olivia Rodrigos Tournee konnte sie ein kleineres Publikum auf sich aufmerksam zu machen. Gleichzeitig begann sie, die ersten Singles ihres kommenden Albums zu veröffentlichen. Das Debüt „The Rise And Fall Of A Midwest Princess“ wurde im Herbst 2023 zur Zäsur: ein Werk, das queere Identität, Camp-Ästhetik und ungebremste Pop-Energie miteinander verbindet.
Mit „Hot To Go!“ dann endgültig der Durchbruch. Wie viele der gegenwärtigen Stars konnte die Sängerin mit ihren TikTok-Videos Reichweite generieren. Insbesondere mit der dazugehörigen, YMCA-artigen Choreografie verbreitete der Song sich in rasender Geschwindigkeit. „Ich hoffe, sie spielen ,Hot To Go!‘“ bei den unpassendsten Konzerten wurde zu einem eigenen Meme, zumal tatsächlich immer mehr Musiker – wie Pop-Punker JXDN oder Weird Al Yankovic – den auf ihren Konzerten coverten. Dass die Künstlerin bis heute kein einziges Feature mit anderen Chart-Größen in ihrem Gesamtwerk aufzuweisen hat, ist umso beindruckender.

Nun ist sie auf ihrer ersten Welttournee, die sie nach Stationen in den USA auch nach Europa führt. Der Zürcher Abend ist Teil davon. Dass ihre Anhängerschaft hierzulande bereits groß ist, zeigte sich im nahezu ausverkauften Hallenstadion. Drei Drag Queens aus der Zürcher Szene, Tropikahl Ivy, Paprika und Viktor von Karma, eröffneten den Abend. Ihre Show fungierte nicht bloß als Vorprogramm, sondern als programmatische Setzung: Roans Kunst wurzelt in der Drag- und Queer-Kultur, ihre Konzerte sind Orte der Sichtbarkeit. Jeder soll hier willkommen sein – so, wie er oder sie ist.
Inszenierung zwischen Überzeichnung und Empowerment
Das Bühnenbild greift diese Botschaft auf. Ein pinkfarbenes Märchenschloss, Kronleuchter, Glitzer – eine Inszenierung zwischen Überzeichnung und Empowerment. Roan selbst präsentiert sich darin nicht als unnahbare Diva, sondern als Gastgeberin einer queeren Feiergemeinschaft. Dass sie im Verlauf des Abends einen eigenen Songtext vergisst und dies kichernd kommentiert, passt ins Bild: Perfektion ist für sie kein Ziel, Authentizität dagegen schon.
Musikalisch bietet der Abend eine Tour durch die noch junge, aber bereits markante Diskografie. „Femininomenon“, „Casual“ und „After Midnight“ setzen früh Akzente. Besonders bemerkenswert: die Live-Premiere ihres neuesten Stücks „The Subway“. Den größten Ausbruch an kollektiver Euphorie provoziert erwartungsgemäß „Hot To Go!“. Das komplette Hallenstadion tanzt mit. Selbst die Coverversion „Hearts Barracuda“ fügt sich stimmig ein und verweist auf die rockigen Wurzeln einer Künstlerin, die sich auch durch Genres nicht einschränken lässt.

Doch jenseits des Spektakels ist der Abend auch ein Statement. Roan spricht über schwierige Phasen ihrer Karriere, widmet Lieder explizit den Drag Queens, Sexarbeitern und -arbeiterinnen sowie der queeren Community. Sie verknüpft ihre Show damit unübersehbar mit politischen Fragen. Ihre Haltung ist deutlich: Gegen einen zunehmenden Konservativismus, der in den USA ebenso wie in Europa zu beobachten ist, setzt sie die Vision einer lauten, farbenfrohen, solidarischen Welt. Zum Schluss erklingt „Pink Pony Club“, eine Hymne auf das Ausbrechen aus provinzieller Enge und das Finden von Freiheit in queeren Räumen, die von der Menge nicht nur mitgesungen, sondern geradezu zelebriert wird.
Noch auf dem Rückweg in den Zürcher Trams wird fröhlich weitergeträllert. Chappell Roan legt mit ihrem Auftritt in Zürich eine Inszenierung vor, die Pop, Camp und Politik miteinander verschränkt. Die Mischung aus Glitzer und Ernsthaftigkeit, aus Märchenhaftigkeit und politischem Subtext, macht sie zu einer Künstlerin, die den Pop unserer Zeit entscheidend prägt. Hier steht nicht nur ein neuer Star auf der Bühne, sondern eine Figur, die Popkultur als gesellschaftliche Praxis begreift.