„Am Anfang stand der Schmerz“, sagt die Künstlerin Marina Abramovic über ihre Arbeit. Im Unterschied zu malenden, modellierenden oder schreibenden Künstlern, setzt(e) sie in aller Öffentlichkeit ihren Körper ein. Sie hat sich Messer in die Finger gerammt, wie beim Russischen Roulette, sie ist durch Flammen gesprungen, schrie bis ihre Stimme brach oder tanzte, bis sie vor Erschöpfung umfiel. Sie ritzte sich mit einer Rasierklinge in den Bauch, peitschte sich in bester Manier der Selbstkasteiung und lag nackt auf einem Eisblock. Der Körper – ihr Medium, besser: ihr Werkzeug.

Noch quälender als diese Schmerzen waren wohl jene Aktionen, in denen sie stundenlang bewegungs- und regungslos verharrte. Berühmtes Beispiel dafür ist ihr Auftritt von 2010 im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA): Abramovic nahm auf einem Stuhl Platz und machte nichts anderes, als denen in die Augen zu schauen, die ihr gegenübersaßen. 90 Tage lang, sechs Tage in der Woche, sieben Stunden am Stück.

Ohne Pause, ohne zu essen und zu trinken. Oder auf die Toilette zu gehen. Ein Martyrium. Für die Künstlerin war diese Langzeit-Darstellung, wie sie sagt, eine der schwierigsten, die sie je gemacht hatte.

Sie geht an die Grenzen

„Diese Frau ist ein Kunstwerk“, kommentierte ein Magazin mit Blick auf diese Aktion und gab damit Antwort auf Frage, ob das alles überhaupt Kunst sei. In ihrer Biographie „Durch Mauern gehen“ (2016) gibt Abramovic, die seit den Siebzigerjahren ihren Körper extremen Situation aussetzt, eine Erklärung darüber ab, was sie bei dieser Übung an- und umtreibt: „Ich wollte die Grenzen erforschen, wollte wissen, wie weit das Publikum gehen würde“.

„The Artist is Present“: 90 Tage lang blickte Marina Abramovic ihren Besuchern in die Augen – ohne Pause, ohne Nahrung, ohne Toilettengang.
„The Artist is Present“: 90 Tage lang blickte Marina Abramovic ihren Besuchern in die Augen – ohne Pause, ohne Nahrung, ohne Toilettengang. | Bild: Marco Anelli

Viele der 1545 Personen weinten, die an „The Artist is Present“ in New York teilnahmen. Andere berichteten von einer lebensverändernden Erfahrung. Am Ende zählte das MoMa 750.000 Besucher. Die New Yorker Ausstellung machte Abramovic endgültig zur Ikone der Aktionskunst.

Inzwischen blickt die in New York lebende Künstlerin auf ein 55-jähriges Schaffen zurück. Damit hat sie moderne Kunstgeschichte geschrieben. Auf dieses Gesamtwerk baut die große Abramovic-Retrospektive im Kunsthaus Zürich auf. Es ist die erste in der Schweiz.

Die von Mirjam Varadinis kuratierte Ausstellung zeigt Werke und Dokumentationen aus allen Schaffensperioden, darunter Videos, Fotografien, Skulpturen, Zeichnungen und Installationen. Die Schau ist nicht chronologisch sortiert, sondern präsentiert die Arbeiten in losen Kapiteln, die mit kurzen Texten eingeführt werden.

Abramovic betreibt keine Aktionskunst mehr, wie sie bei der Medienkonferenz in Zürich mit Hinweis auf ihr Alter erklärte. Nichtsdestotrotz bleibe sie kreativ. Kunst sei für sie wie Atmen.

Marina Abramovic bei der Pressekonferenz im Kunsthaus Zürich.
Marina Abramovic bei der Pressekonferenz im Kunsthaus Zürich. | Bild: Til Buergy

In ihren neueren Werken geht es ihr jetzt stärker um eine mentale Transformation und eine neue Selbsterfahrung für Betrachter ihrer Werke. Dazu gehört die Arbeit „Decompression Chamber“, die sie eigens für das Kunsthaus konzipiert hat: Sie lädt die Besucher ein, ihre Handys in einem Schließfach einzuschließen, Geräuschunterdrückende Kopfhörer aufzusetzen und in Liegestühlen in Stille zu verweilen und zu „dekomprimieren“, also zu entspannen und in einen anderen Gefühls- oder Seinszustand zu gelangen. „Stille ist wie eine Insel inmitten der aufgewühlten See“, schreibt Marina Abramovic in ihrem „An Artist‘s Life Manifesto“ (1997-2014). Wer würde ihr da widersprechen.

Seit 55 Jahren schafft die heute in New York lebende Abramovic ihre Kunst.
Seit 55 Jahren schafft die heute in New York lebende Abramovic ihre Kunst. | Bild: Courtesy of the Marina Abramovi? Archives / 2024, ProLitteris, Zurich

Ganz ohne Darbietung geht es allerdings auch in dieser Ausstellung nicht. Ikonische und historische Werke werden in regelmäßigen Abständen durch 24 speziell geschulte Personen erneut aufgeführt. Die Darsteller wurden aus mehr als 800 Bewerbern ausgewählt. Dazu gehört die Inszenierung „Imponderabilia“, die Abramovic 1970 mit ihrem damaligen Partner Ulay in Bologna uraufführte.

Im Eingangsbereich zum Zürcher Bührle-Saal stehen zwei nackte Menschen, Mann und Frau. Sie stehen so nahe beieinander, dass man sich zwischen ihnen hindurchzwängen muss. Wer will, kann eine „neutrale“ Tür nebenan benutzen.

Würden Sie als Besucher hier hindurchgehen wollen? „Imponderabilia“ in einer Neuauflage am Kunsthaus Zürich.
Würden Sie als Besucher hier hindurchgehen wollen? „Imponderabilia“ in einer Neuauflage am Kunsthaus Zürich. | Bild: Kopitzki, Siegmund

Und ja, es gibt vor dem Eingang eine Vorwarnung: „Bitte beachten Sie, dass die Ausstellung Nacktheit und Kunstwerke zum Thema Tod und körperlichem Schmerz enthält, die verstörend wirken können“. Dazu in der Medienkonferenz befragt, sagte Abramovic, dass es heute nicht mehr möglich sei, kompromisslose Kunst zumachen wie noch in den 1970er-Jahren. Warum eigentlich nicht? Der Kompromiss in Zürich ist der zweite Eingang.

Mit Ulay – eigentlich Frank-Uwe Laysiepen – hat Abramovic etliche Darbietungen durchgeführt. Einige davon sind auch in der Ausstellung in Zürich dokumentiert: In „Rest Energy“ (1980) halten beide einen Bogen, Ulay spannt ihn, die Pfeilspitze ist auf ihr Herz gerichtet.

Er wird doch nicht loslassen? Ihrem Partner Ulay schien Marina Abramovic jedenfalls bedingungslos zu vertrauen.
Er wird doch nicht loslassen? Ihrem Partner Ulay schien Marina Abramovic jedenfalls bedingungslos zu vertrauen. | Bild: Courtesy of the Marina Abramovi? Archives / 2024, ProLitteris, Zurich

1977 saß sich das Paar auf der Kölner Kunstmesse gegenüber und ohrfeigte sich 20 Minuten lang, wie ein Video zeigt. Der Höhepunkt ihrer beruflichen wie privaten Partnerschaft war „The Great Wall Walk“, bei der Abramovic und Ulay von unterschiedlichen Richtungen auf der Chinesischen Mauer aufeinander zuliefen. Die Aktion war als romantisches Manifest gedacht. Nach drei Monaten trafen sie aufeinander. Anstatt, wie geplant, zu heiraten, trennten sie sich nach der Begrüßung.

„Das Publikum ist mein Spiegel“

Die Ausstellung berührt an vielen Stellen. Empathie charakterisiert Abramovic, es ist die erste Botschaft ihres kolossalen Werks. „Das Publikum ist mein Spiegel und ich bin der Spiegel meines Publikums“, sagt sie. In „Rhythm O 2“ (1974) lud sie das Publikum ein, direkt aktiv zu werden.

Sie stellte 72 Gegenstände auf einem Tisch bereit und forderte die Besucher auf, damit mit ihr zu interagieren. Der Tisch steht wie ein Denkmal in der Ausstellung. Als solches kann auch „Balkan Baroque“ gelesen werden: ein riesiger Knochenhaufen, eine Nachbildung ihrer Biennale-Performance von 1977, nur dass die Knochen keine Fleischreste dran haben. In Venedig war das noch möglich. Es war ihre Antwort auf den Krieg in ihrer serbischen Heimat. Sie kann also auch Politik, Marina Abramovic.

Marina Abramovic. Kunsthaus Zürich. Bis 16. Februar 2025. Di bis Mi und Fr bis So: 10–18.15 Uhr, Do 10–20.15 Uhr. Mo geschlossen. Ausstellungskatalog 49,90 Euro. Weitere Informationen: www.kunsthaus.ch