Vergnüglich ist die Lektüre nicht, und doch steckt zwischen staubtrockenen Sätzen manch interessante Information. Artikel 5g im Änderungsprotokoll über die Freizügigkeit zum Beispiel spannend für Gewerbetreibende: Bislang müssen Handwerker nämlich noch acht Tage, bevor sie ihre Mitarbeiter zum Auftrag jenseits der Grenze schicken, die Arbeitnehmerentsendung anmelden – künftig sollen vier genügen.

Damit soll gewährleistet werden, dass zum Beispiel der deutsche Dienstleister, der in der Schweiz den Pool gebaut hat, auch für die Reparatur gerufen werden kann, erläutert Andreas Schwab. Der CDU-Europaabgeordnete steckt seit Jahren tief drin im Thema der Verhandlungen zwischen der EU und der Schweiz.

Im Großen und Ganzen soll das grenzüberschreitende Leben, an das sich die Menschen in der Region gewöhnt haben, das den Handel florieren lässt, womit 66.000 deutsche Grenzgänger ihren Lebensunterhalt bestreiten, das Freunde und Familien verbindet – all das soll weitergehen, lautet das knappe Fazit, wenn man 1000 Seiten auf den Punkt bringen müsste.

Die Schweizer Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter (r) spricht mit Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, vor ...
Die Schweizer Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter (r) spricht mit Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, vor einem bilateralen Treffen am Rande des 55. Jahrestreffens des Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos, Schweiz. | Bild: Laurent Gillieron, dpa

Stabilität schaffen

Es geht um Stabilität. In Zeiten, wo die Welt unsicher geworden ist, wo wöchentlich neue Zoll-Debatten für Unsicherheit sorgen, sei es von Vorteil, sich mit seinen Nachbarn gut zu verstehen, so Rita Schwarzelühr-Sutters Bewertung des Abkommens. „Der Grenzgänger wird im normalen Alltag nichts spüren – Steuern und Sozialsysteme bleiben gleich. Aber bei der Arbeitssicherheit werden EU-Regeln umgesetzt.“

Schwab übt auch Kritik: „Wir machen ehrlicherweise nur einen kleinen Schritt, den wir vor 20, 30 Jahren hätten machen sollen.“ Er hofft darauf, dass die Schweizer Parteien sich mehr Werbung fürs Abkommen machen, das ja noch durch eine Volksabstimmung abgesegnet werden muss. In Kraft treten wird es nicht vor 2026. Bislang lege sich nur Bundesrat Beat Jans fürs Abkommen ins Zeug. „Die anderen haben die Hosen voll“, sagt Schwab. Auch wenn das von der Schweizer Seite immer mal behauptet wird: „Die EU hat überhaupt kein Interesse daran, die Schweiz zu unterdrücken.“

Auch wenn das Ziel Stabilität ist, gibt es dennoch ein paar Veränderungen, die die Bürger dies- und jenseits der Grenze bemerken werden.

1. Neues im Bereich Verkehr

Hier dürfte für den Bürger die Veränderung spürbar werden. Denn die jeweiligen Eisenbahn- und Flugverkehrsmärkte werden geöffnet. Das heißt, EU-Eisenbahnunternehmen können bei internationalen Verbindungen, die in die Schweiz gehen, auch Passagiere innerhalb der Schweiz aufnehmen. Demnach könnte Flixtrain die bereits seit längerem erhoffte Strecke von München nach Zürich anbieten.

Beim Flugverkehr können die nationale Unternehmen im jeweiligen anderen Markt Flugverbindungen anbieten, so kann etwa Lufthansa künftig Flugverbindungen innerhalb der Schweiz anbieten und Swiss zum Beispiel in Deutschland.

2. Folgen für Auswanderer

EU-Bürger genießen innerhalb der EU größtmögliche Freiheit: Ohne besondere Erlaubnis oder Aufenthaltstitel darf man sich frei aufhalten, bewegen und arbeiten. Die so genannte Freizügigkeit ist eine der großen Errungenschaften der EU. Und letztlich soll dasselbe – mit kleinen Einschränkungen – auch für die Schweiz gelten.

„Die Schweiz unterliegt künftig den gleichen Regeln wie ein EU-Mitgliedstaat“, analysiert die Pressestelle des Staatsministeriums in Stuttgart. „Das heißt, erwerbstätige EU-Bürger können künftig leichter ein Daueraufenthaltsrecht in der Schweiz bekommen.“ Damit gilt das, was für EU-Bürger in anderen EU-Staaten auch gilt. Durch den Daueraufenthalt ist es nicht mehr notwendig, eine Arbeit oder ein Gewerbe auszuüben, um in Deutschland zu leben.

Die Schweiz hat allerdings eine Klausel hineinverhandelt, um die Freizügigkeit bei „schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen“ zu begrenzen. „Die Schweiz kann den Aufenthalt von erwerbslosen Personen beenden, wenn diese sich nicht um ihre Erwerbsintegration bemühen und nicht mit der öffentlichen Arbeitsvermittlung (RAV) kooperieren“, erläutert der Schweizer Bundesrat. Auch bei Straftaten kann die Schweiz des Landes verweisen.

Die Schweizer Nationalfahne weht auf den kleinen Kuppeln auf dem Bundeshaus.
Die Schweizer Nationalfahne weht auf den kleinen Kuppeln auf dem Bundeshaus. | Bild: Alessandro Della Valle, dpa

3. Folgen für Grenzgänger

Grenzgänger müssen sich auch künftig registrieren lassen, wenn sie sich mehr als drei Monate pro Kalenderjahr zur Erwerbstätigkeit in der Schweiz aufhalten. Beantragen soll die Bescheinigung aber in Zukunft der Arbeitgeber, wobei dies in der Praxis heute schon so gehandhabt werde, schreibt das Schweizerische Staatssekretariat für Migration (SEM) auf Anfrage.

Die Bescheinigung kann kostenpflichtig sein, allerdings sind abschreckende Gebühren ausgeschlossen. „Ziel ist es, die Transparenz über grenzüberschreitende Erwerbstätigkeit zu erhöhen, nicht jedoch den Marktzugang zu beschränken“, erläutert das Büro von Andreas Schwab. Auch selbständig Erwerbstätige sind künftig meldepflichtig. Damit soll verhindert werden, dass die auf 90 Tage beschränkte Dienstleistungsfreiheit umgangen wird. Genaueres entnimmt man dem erläuternden Bericht.

Gut für Grenzgänger auch, dass das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ abgesichert wurde. Die geplanten Maßnahmen würden wachsam beobachtet und hinsichtlich möglicher Mehrbelastungen für die baden-württembergischen Unternehmen laufend geprüft, heißt es von Seiten des baden-württembergischen Wirtschaftsministeriums.

Der Lohnschutz ist auch aus Schweizer Sicht ein heikles Thema. Vor allem die Gewerkschaften fürchten Verschlechterungen. Die Schweiz konnte bei den Verhandlungen den Erfolg für sich verbuchen, künftig keine EU-Regelungen übernehmen zu müssen, die zu einer Verschlechterung des Lohnschutzes führen würden (Non-Regression-Klausel).

4. Folgen für Handwerker und Dienstleister

Wie bereits erwähnt, werden beim grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr Hürden abgebaut. Dies gilt insbesondere für EU-Unternehmen, die in der Schweiz tätig werden möchten. So wird die Voranmeldefrist für EU-Unternehmen von acht auf vier Tage verkürzt. Eine Kaution kann künftig nur noch verlangt werden, wenn beim letzten Einsatz des Unternehmens in der Schweiz ein Verstoß festgestellt wurde.

Vor allem Letzteres stelle eine erhebliche Erleichterung für die baden-württembergischen Unternehmen, vor allem Handwerksbetriebe, bei der grenzüberschreitenden Dienstleistungserbringung dar, so die Bewertung des Landeswirtschaftsministeriums.

5. Folgen für Unternehmen

Medizintechnikfirmen beispielsweise werden aufatmen, wenn das Abkommen zustande kommt. Weil das „Mutual Recognition Agreement“ (MRA), also das Abkommen über technische Handelshemmnisse seit 2021 nicht aktualisiert wurde, führte das zu mehr Bürokratie und mehr Kosten beim Export in die Schweiz. „Wichtige Innovationen wurden dadurch unterbunden. Gleichzeitig mussten teure Doppelstrukturen aufgebaut werden“, urteilt das baden-württembergische Wirtschaftsministerium.

Das MRA gilt als das wichtigste Abkommen in den wirtschaftlichen Beziehungen Baden-Württembergs zur Schweiz. In 20 Produktbereichen regelt es, kurz gesagt, dass ein Produkt, das in der Schweiz auf dem Markt ist, auch in der EU verkauft werden darf und umgekehrt.

6. Folgen für die Forschung

Das Abkommen wird dafür sorgen, dass die Schweiz wieder in den Genuss von EU-Fördermitteln für die Forschung kommt. Das ist auch für die Grenzregion wichtig, in Südbaden gibt es langjährige Forschungszusammenarbeit über die Grenze hinweg. Zum Beispiel den European Campus Eucor am Oberrhein und den Wissenschaftsverbund Vierländerregion Bodensee. Durch die Einstufung als Drittland im EU-Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe konnte die Schweiz sich nicht mehr vollumfänglich am EU-Programm beteiligen.

7. Immobilienerwerb bleibt gleich

Die bisherige Ausnahme zum Erwerb von Immobilien bleibt bestehen. Das heißt, EU-Bürger, die in der Schweiz leben, dürfen ohne Bewilligung eine Immobilie erwerben. Nicht in der Schweiz lebende Ausländer benötigen eine Kaufbewilligung. Grenzgänger sind die Ausnahme: Sie können in der Gegend ihres Arbeitsorts ohne Bewilligung eine Zweitwohnung erwerben, dürfen die aber nicht vermieten.

8. Vorzüge der organisierten Streitschlichtung

Ob die deutschen Grenzkontrollen gegen eine EU-Richtlinie verstoßen, wird im Zweifelsfall vom Europäischen Gerichtshof entschieden. So eine Instanz aber fehlt im Verhältnis zur Schweiz bislang. „Bei Streitfragen kommen wir immer in der Logik von Druck an“, sagt Schwab. Sprich: Es wird gegenseitig sanktioniert, da keiner eine Lösung herbeiführen kann.

Das soll sich ändern: Ein unabhängiges Schiedsgericht soll sich künftig um Streitfragen kümmern. Das kann sogar kleine Gewerbetreibende oder Arbeitnehmer betreffen. Wird ein Handwerker zu Unrecht mit einer Kaution belegt, kann er sich nicht nur innerhalb der Schweizer Gerichtsbarkeit wehren – das geht bislang schon, ist aber kostspielig. Er kann sich künftig auch an die EU wenden.

9. Folgen für Schweizer

In Deutschland ist der Fingerabdruck im Personalausweis seit 2021 verpflichtend, so sieht es das EU-Recht vor. In der Schweiz können Bürgerinnen und Bürger können selbst entscheiden, ob sie eine biometrische Identitätskarte beantragen. Für den Grenzübertritt benötigen sie aber über kurz oder lang die biometrischen Daten im Ausweisdokument. Allerdings mit langer Übergangsfrist: Nicht-biometrische Identitätskarten verlieren nach einer elfjährigen Übergangsfrist ihre Gültigkeit für Reisen in die EU, schreibt das SEM. Die Verwendung nicht-biometrischer Identitätskarten in der Schweiz bleibe möglich.

Der Strom könnte günstiger werden für die Schweizer, weil ein neues Stromabkommen die Beteiligung am EU-Strombinnenmarkt ermöglicht.

Das merkt der einzelne Schweizer nicht im Portemonnaie, aber ein wichtiges Thema ist das Geld, das die Schweiz nach Brüssel überweist allemal. Bisher hat die Schweiz 130 Millionen Schweizer Franken pro Jahr beigesteuert – nicht regelmäßig, sondern im Laufe von zehn Jahren in zwei Tranchen. Jetzt ändert sich das. Künftig sind geregelte Zahlungen für jeweils sieben Jahre vorgesehen, von 2030-2036 liegen diese bei 350 Millionen Franken pro Jahr. Damit wird die Schweiz deutlich mehr dafür zur Kasse gebeten als zuvor, dass sie am Binnenmarkt teilnehmen darf. Durch die Zahlungen wird die Entwicklung in ärmeren Regionen gefördert.