Lokführer, Flughafen-Sicherheitspersonal, Flugbegleiter, Busfahrer: Irgendjemand hat in den vergangenen Wochen im Verkehrssektor immer gestreikt. Reisende waren genervt – und konnten neidisch auf die Schweizer Nachbarn blicken. Denn dort sind solche Streikwellen unbekannt.

Gerade einmal einen Ausfalltag pro 1000 Beschäftigte gab es dort durchschnittlich in den Jahren 2012 bis 2021. In Deutschland waren es in der gleichen Zeit 18 arbeitskampfbedingte Ausfalltage, wie eine Studie des Düsseldorfer Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts zeigt. Dürfen die Schweizer nicht streiken? Regeln sie ihre Konflikte anders? Oder sehen sie gar keine Gründe, um ihre Arbeit niederzulegen? Das sagen Experten.

Die rechtliche Lage

Fast jeder zweite Arbeitnehmer in der Schweiz untersteht einem sogenannten Gesamtarbeitsvertrag (GAV). „Hier wird häufig eine Friedenspflicht vereinbart, wonach Lösungen mittels Gesprächen gesucht werden müssen, nicht via Streiks“, sagt Stefan Heini vom Schweizerischen Arbeitgeberverband. Er weist aber auch darauf hin, dass diese GAVs im gemeinsamen Einvernehmen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebervertretern ausgehandelt werden. „Es sind die Gewerkschaften, die überall GAV möchten“, so Heini.

Auch in Deutschland gibt es sehr viele Beschäftigte, die einem Tarifvertrag unterstehen – beispielsweise die Lokführergewerkschaft GDL. Gestreikt wird trotzdem. Weshalb Roger Rudolph, Professor für Arbeitsrecht an der Universität Zürich, auch sagt: „Die Rechtslage in der Schweiz in Bezug auf das Streikrecht ist durchaus vergleichbar mit jener in Deutschland. Insbesondere ist das Streikrecht in der Schweiz verfassungsrechtlich gewährleistet.“ Die Gründe für die unterschiedliche Bedeutung von Streiks sieht er vor allem in einer anderen Konfliktlösungskultur.

Das politische Verständnis

Die Schweiz ist eine sogenannte Konkordanz-Demokratie. Das bedeutet, es wird versucht, eine möglichst große Anzahl verschiedener Akteure in politische Prozesse einzubeziehen. „Alle wesentlichen politischen Kräfte sind in die Regierung eingebunden“, sagt Roger Rudolph. Deren Arbeit ist geprägt von der Suche nach Kompromissen und Konsens – das wirkt sich auch auf die Gesellschaft aus.

„Die Schweiz hat überhaupt keine Streikkultur, sondern eine Problemlösungskultur“, sagt Stefan Heini. Streiks seien destruktiv und ließen in der Regel nur Verlierer zurück. „Würde bei uns so viel gestreikt wie in Deutschland, wäre unsere gelebte Sozialpartnerschaft gescheitert“, so Heini.

Auch Roger Rudolph sagt: „Es gibt in der Regel ein gemeinsames Verständnis, dass ein Arbeitskampf nur die letzte Lösung sein kann.“ Während in der Schweiz beim Aushandeln eines GAV in den meisten Fällen eine Einigung erzielt wird, rufen die Gewerkschaften in Deutschland häufig bereits während der Verhandlungen zum Arbeitskampf auf.

Die Gewerkschaften

In der Schweiz gibt es zwar Gewerkschaften. „Ihr Organisationsgrad, also die Zahl ihrer Mitglieder, ist seit einigen Jahren jedoch abnehmend“, sagt Roger Rudolph. In Deutschland dagegen verzeichneten die Gewerkschaften im Jahr 2023 stark steigende Mitgliedschaften, allein bei der zweitgrößten deutschen Gewerkschaft Verdi kamen 193.000 neue Mitglieder hinzu – laut Verdi der größte Zuwachs seit der Gründung im Jahr 2001.

Das hängt aber auch damit zusammen, dass in Deutschland das Streikrecht eben nur Gewerkschaften zusteht. In Frankreich dagegen, wo die Beschäftigten durchschnittlich auf 93 Streiktage pro 1000 Beschäftigte kommen, kann jeder anfangen, zu streiken. Weshalb dort deutlich weniger Arbeitnehmende Mitglied einer Gewerkschaft sind als in Deutschland.

Bei der Deutschen Bahn, wo traditionell viel gestreikt wird, kommt die besondere Situation hinzu, dass es mit der GDL und der EVG zwei Gewerkschaften gibt, die sich jeweils profilieren wollen.

Die Arbeitszufriedenheit

Verschiedene Umfragen wie etwa das Schweizer HR-Barometer, welches regelmäßig die Einstellungen, Wahrnehmungen, Stimmungen und Absichten von Beschäftigten in der Schweiz misst, zeigen immer wieder: Die meisten Schweizer sind sehr zufrieden mit ihrem Arbeitsplatz, die Beschäftigungssituation ist gut, die Verbundenheit mit dem Unternehmen hoch, die Mitarbeiter gut bezahlt. Es gibt also einfach selten gute Gründe, um zu streiken.