Es ist schon fast eine Manie, eine Sucht. Vor jeder Sehenswürdigkeit zücken wir im Urlaub das Handy, bringen uns in Pose und drücken auf den Auslöser: Ich war hier! Sekunden später kann jeder das Foto auf Facebook oder Instagram sehen. Genau das ist der Sinn der Sache: Alle sollen wissen, dass ich hier war.

Wir leben in der Epoche der Selbstdarsteller und, seit es Smartphones gibt, in der Ära des Selfie-Poser. Ein nicht ganz ungefährliches Zeitalter: Laut einer Studie der National Library Of Medicine der USA starben von 2011 bis 2017 mindestens 259 Menschen bei dem Versuch, in einer gewagten Position ein Selfie zu schießen.

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Eine Entwicklung mit offenbar stark ansteigender Tendenz, ereignete sich ein Drittel der Unfälle allein im letzten Jahr des Untersuchungszeitraums. Fachleute vermuten, dass die Dunkelziffer noch weit höher ist. Schon deshalb, weil die Statistik Autounfälle, die durch Selfie-Sucht verursacht wurden, nicht erfasst hat.

Woher rührt dieses geradezu todesmutige Verlangen nach Selbstdarstellung? Nicht überraschend nebenbei: 72,5 Prozent der Opfer der Studie waren Männer. Klar, jeder möchte sich gern von seiner besten Seite zeigen. Und jeder will die anderen beeindrucken. Eine Ausstellung in Baden-Baden weckt jetzt die Vermutung, dass es noch weitere Ursachen für den Drang und beinahe Zwang zur Selbstdarstellung gibt. Beiläufig schreibt sie seine Archäologie.

Trend zur Selbstdarstellung

Das Museum für Kunst und Technik des 19. Jahrhunderts – oder kurz: Museum LA 8, nach der Adresse an der Lichtentaler Allee – widmet sich in der Ausstellung „Schein oder Sein. Der Bürger auf der Bühne des 19. Jahrhunderts“ einer bemerkenswerten Entwicklung: dem bürgerlichen Trend zu repräsentativer Selbstdarstellung, zur Schauspielerei, zur Theatralisierung des Alltags.

Wer mehr sein will, als er ist, oder wer jemand anderer sein will, heißt im gewöhnlichen Sprachgebrauch Schauspieler. In diesem übertragenen Wortsinn ist der Begriff durchaus auf das Bürgertum des 19. Jahrhunderts anwendbar. Denn Sein wird im 19. Jahrhundert zunehmend zu Schein, der Bürger zu einem Repräsentanten und Schauspieler seiner selbst.

Carte-de-visite eines unbekannten Modells – fotografiert von Georg E. Hansen (1833-1891), Kopenhagen.
Carte-de-visite eines unbekannten Modells – fotografiert von Georg E. Hansen (1833-1891), Kopenhagen. | Bild: Henrik Elburn

Doch es gibt noch handfestere Bezüge zur Theatersphäre. Im 19. Jahrhundert vollzieht sich nämlich zugleich eine Verbürgerlichung des Theaters. Die adligen Hoftheater werden nach und nach in Stadttheater überführt und als solche für jeden Bürger zugänglich.

Bürgerlich sind zunehmend auch die Dramenstoffe: Das bei Deutschschülern berühmt-berüchtigte bürgerliche Trauerspiel floriert. Der bürgerliche Theaterbesucher erkennt in den Bühnenfiguren sich selbst.

Theater im bürgerlichen Leben

Zudem steigt die Schauspielkunst in privaten Theateraufführungen, Pantomime-Spielen oder sogenannten Tableaux vivants (Darstellungen von Werken der Malerei oder Plastik durch lebende Personen) von der Theaterbühne herab mitten ins bürgerliche Leben hinein. Die beliebten Maskenbälle sind ein weiteres Übungsfeld in Sachen Schauspiel, Verstellung und Schein.

In seiner lithografischen Serie „Comédiens de société“ (Komödianten der Gesellschaft) nimmt Honoré Daumier den bürgerlichen Schauspieler-Ehrgeiz mit spitzer Radiernadel aufs Korn, so in der Lithografie „Eine vornehme Hausfrau, die um jeden Preis dem Théatre Français den Rang ablaufen will“. Früh übt sich, wer Schauspieler werden möchte: Um 1900 kam das Spieleset „Theater für Kinder“ auf den Markt.

Jeder will ein Schauspieler sein

Ließen sich professionelle Schauspieler gern in Kostüm und Pose ihrer Paraderolle ablichten, so eiferte ihnen nun auch der Bürger nach und posierte vor der Kamera in Rollenporträts nach berühmten Schauspielszenen oder auch Gemälden. Nicht anders als heute war die Fotografie damals also schon ein wichtiges Medium der Selbstdarstellung.

Die um 1860 aufkommende Carte-de-visite – eine auf Karton aufgezogene repräsentative Porträtaufnahme im kleineren Format – ließ sich vervielfältigen. Als analoger Vorläufer des Selfies kursierte sie im Freundes- und Bekanntenkreis des Porträtierten.

Carte-de-visite aus dem Fotoatelier E. Lange, um 1865, Kopenhagen.
Carte-de-visite aus dem Fotoatelier E. Lange, um 1865, Kopenhagen. | Bild: Henrik Elburn

Vorreiter und Trendsetter dieser Entwicklung waren die Künstler. Der Düsseldorfer Künstlerverein „Malkasten“ inszenierte aufwendige Festzüge, Theateraufführungen und Maskenbälle. Wer andere darstellt und dabei selbst aufs kleinste Detail achten muss, erwirbt sich sozusagen nebenbei die Gabe, selbst in eine Rolle zu schlüpfen.

Malerfürsten der Münchner Schule wie Franz von Lenbach, Franz von Defregger oder Ferdinand von Piloty erfüllten ihre in der ehrenvollen Bezeichnung bereits angelegten Repräsentationspflichten unter anderem dadurch, dass sie neben ihren Arbeitsateliers prunkvolle Präsentationsateliers unterhielten: Verkaufsräume großbürgerlichen, ja geradezu fürstlichen Zuschnitts.

Das Künstleratelier von Franz von Lenbach (1836-1904), fotografiert von Carl Teufel.
Das Künstleratelier von Franz von Lenbach (1836-1904), fotografiert von Carl Teufel. | Bild: Bildarchiv Foto Marburg

Sie wurden übrigens prägend für einen spezifischen Einrichtungsstil um 1890: den so genannten Atelierstil. Auch in Sachen Wohnambiente gehörten Künstler somit zur Avantgarde. Denn im 19. Jahrhundert wird die gute Stube des Bürgers zum Salon und darin zu einer Bühne der Selbstinszenierung.

Gewohnt anschaulich, mit zahlreichen Objekten wie historischen Entwürfen für Bühnenbilder, mit Theatervorhängen und -requisiten, Modellen und grafischen Darstellungen von Theaterbauten oder Ölgemälden und Porträtfotografien vergegenwärtigt die Ausstellung in Baden-Baden eine wichtige und breite gesellschaftliche Tendenz, im Zuge derer Selbstinszenierung sich als fester Bestandteil bürgerlichen Lebens etablierte. Ein Stück weit ist der Selfie-Poser von heute so gesehen auch ein Erbe des 19. Jahrhunderts.

„Schein oder Sein. Der Bürger auf der Bühne des 19. Jahrhunderts“ – bis 8. September 2019 zu sehen im Museum LA 8 in Baden-Baden. Geöffnet ist Dienstag bis Sonntag von 11 bis 18 Uhr. Weitere Informationen finden Sie hier.