Als vor 20 Jahren hierzulande eine Fernsehshow namens „Big Brother“ startete, war in den Medien von „Fernsehen an der Geschmacksgrenze“ und „bizarrer Spanner-Show“ die Rede. „Die Würde des Menschen ist antastbar geworden“, schrieb seinerzeit „Der Spiegel“. Zur Erinnerung: „Big Brother“, das ist die Sendung mit dem Wohncontainer. Die Kandidaten werden rund um die Uhr überwacht. In diese m Frühjahr soll die 13. Staffel anlaufen.
Ein Skandal, der nicht stattfindet
Es lohnt sich, den „Spiegel“-Artikel von damals zu studieren. Zum Beispiel wegen der Prognose, wonach diese Sendung nur dann wirklich schlimm werde, wenn es eben nicht schlimm wird. Wenn die Gefährlichkeit eines solchen Formats gar niemandem auffällt: „Der Skandal begänne dort, wo er nicht stattfindet.“ Nun ja, von Skandal ist nicht viel zu sehen.
In Wahrheit hat die Antastbarkeit der Würde in Shows wie „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!„, „Deutschland sucht den Superstar“ oder (diese Woche wieder angelaufen) „Germany's Next Topmodel„ längst ganz andere Dimensionen erreicht. Der Aspekt ständiger Überwachung löst bloß Schulterzucken aus, allenfalls das immer extremere Ausmaß an Demütigungen und Beleidigungen provoziert noch hier und da zarte Kritik.
Ins Wohnzimmer gekübelter Hass
Es ist grotesk. Da sorgt sich eine Gesellschaft vor potenziell diskriminierenden Fasnachtskostümen und achtet peinlichst darauf, noch im letzten Halbsatz sämtliche Geschlechtsgruppen sprachlich zu berücksichtigen. Was aber Fernsehsender allabendlich an Häme, Menschenhass, ja Vernichtungswillen ins Wohnzimmer kübeln, das gilt als charmant ironisches Spiel mit vermeintlich antiquierten Anstandsregeln.
Auf ProSieben lässt Heidi Klum ein Mädchen wissen, es laufe „wie ein Bauer“, auf RTL erklärt Dieter Bohlen einem Jungen, seine Stimme klinge, „als wenn sie dir den Arsch zugenäht haben und die Scheiße oben raus kommt“. Und wir wundern uns über die Verrohung des politischen Diskurses? Ernsthaft?
Verharmlost, verniedlicht
Schlimm, hieß es damals im „Spiegel“, werde es, wenn es gar nicht schlimm wird. Was der Autor nicht voraussehen konnte: Das Allerschlimmste ist, wenn ausgerechnet eine intellektuelle Elite eifrig an der Verharmlosung und Verniedlichung solch unverhohlener Menschenverachtung mitwirkt.
Seit in unserem Fernsehen die Würde des Menschen antastbar geworden ist, haben sich viele Feuilletonisten in der Attitüde des Unterschichten-Verstehers gefallen. So dozierte Medienkritiker Stefan Niggemeier in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, man könne aus dem „liebevoll produzierten“ RTL-Dschungelcamp „viel lernen“. Von moralischen Skrupeln geplagte Leser beruhigte er: Bei diesem „Hochfest der Häme“ sei Schadenfreude doch nur „ein sehr angemessenes und gerechtes Gefühl“!
„Folge dem Führer“
In dieser Woche wurde des 75. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz gedacht. Der Sender Sat.1 startete derweil seine Marketingkampagne zur neuen Staffel von „Big Brother“. Die Zuschauer sollen bewerten, „was ein Mensch wert ist“ und zu diesem Zweck gelbe Sterne verteilen. Der Song zum Werbetrailer heißt „Follow The Leader“. Auf Deutsch: „Folge dem Führer.“ Wahrscheinlich kann man auch diesmal „viel lernen“. Und vermutlich ist auch jetzt wieder Schadenfreude ein „angemessenes und gerechtes Gefühl“.
Mindestens ebenso angemessen und gerecht wäre es aber, unsere moralische Empörung statt auf Fasnachtsverkleidungen mal auf Programmverantwortliche zu richten: auf Leute, die ihr Gewissen offenbar irgendwo im Dschungel verloren haben.