Nie war es so schwierig wie heute, ein Gentleman zu sein. Hältst du einer Dame die Tür auf: Sexismus. Hilfst du ihr gar in den Mantel: hoffnungslos gestrig. Wie soll ein Mann da noch durchblicken?
Ein Brite muss her!
Wenn irgendjemand uns dabei helfen soll, ein Gentleman zu werden, so muss es natürlich ein Brite sein. Und vielleicht ist es nicht einmal ratsam, diesen Ratgeber unter den heutigen Inselbewohnern zu suchen: Das Brexit-Chaos brachte zuletzt nicht gerade die hervorstechendsten Eigenschaften des Gentlemans hervor.
Halten wir uns also lieber an einen Klassiker. Philip Stanhope, 4. Earl of Chesterfield, lebte im 18. Jahrhundert und hatte als Staatsmann das gute Benehmen verinnerlicht wie kein Zweiter. Es war eine Zeit, in der Höflichkeit die Grundlage jeder Berufslaufbahn war, und dem Earl of Chesterfield war sehr daran gelegen, dass sein unehelicher Sohn eines Tages auf eine solche Laufbahn zurückblicken könnte. Aus diesem Grund unterrichtete er ihn in einer Abfolge von Briefen über die wichtigsten Verhaltensregeln eines Gentlemans. Manche Lektion wirkt wie ein Kommentar auf heutige Missstände.
- Aufmerksamkeit: Die Tugend sollte am einfachsten zu erlernen sein, und doch fällt gerade sie heute vielen besonders schwer. „Du solltest nicht nur auf alles deine Aufmerksamkeit richten“, empfiehlt der Autor seinem Sohn, „sondern dies auch sehr schnell tun, sodass du zugleich alle Leute im Raum, ihre Bewegungen, ihr Aussehen und ihre Worte beobachtest, ohne sie dabei anzustarren und als Beobachter zu erscheinen.“ Was würde Chesterfield wohl über Männer von heute sagen, die ihren Blick lieber aufs Smartphone richten statt auf andere Menschen?
Sie ahnen wohl gar nicht, was ihnen entgeht. Denn: „Frauen lassen sich nicht so sehr von Schönheit einnehmen wie Männer, sondern ziehen jene Männer vor, die ihnen die meiste Aufmerksamkeit erweisen.“
- Gerechtigkeit: „Aber dies will ich dir raten“, heißt es bei Chesterfield, „niemals ganze Gruppen gleich welcher Art anzugreifen, denn abgesehen davon, dass sämtliche allgemeinen Regeln ihre Ausnahmen haben, machst du dir ohne Not eine große Menge Feinde.“ So einfach lässt sich gegen rassistisches und sexistisches Verhalten argumentieren. „Individuen vergeben zuweilen, aber Gruppen und Gesellschaften niemals.“ Als Gentleman sich vor tumben Verallgemeinerungen in Acht zu nehmen, das ist also nicht bloß sittlich geboten: Es ist eine Frage der Vernunft.

- Lautstärke: „Niemals solltest du ein Argument hitzig und laut verfechten, wenn du auch meinst, du seist im Recht.“ Es sei nämlich mit Argumenten wie mit anderen guten Eigenschaften: „Wenn sie echt sind, werden sie unweigerlich entdeckt werden.“ Dazu braucht es gar kein Geschrei, wie es in unseren Fernseh-Talkshows zu vernehmen ist. Das gilt auch für den Humor. Lautes Gelächter gelte allein Albernheiten, niemals aber einem „wahren Witz“ von „gutem Geschmack“. Einen Gentleman wird man deshalb nur lächeln sehen, niemals aber lauthals lachen hören.
- Gesellschaft: Nur auf den ersten Blick mutet Chesterfields Rat dünkelhaft an. „Bemühe dich, so gut du kannst, Umgang mit Leuten über dir zu haben“, empfiehlt er seinem Sohn. „Dort wirst du steigen, ebenso wie du mit Leuten unter dir sinkst.“ Steigen durch Umgang mit Leuten „über mir“? Sollen wir uns also nur mit Hochwohlgeborenen umgeben? Keineswegs! Denn: „Wenn ich Gesellschaft über dir sage, darfst du mich nicht missverstehen und annehmen, ich meinte dies hinsichtlich ihrer Geburt.“ Gemeint sei der Begriff vielmehr „im Hinblick auf ihre Verdienste und auf das Licht, in dem die Welt sie betrachtet“.
Geringschätzung verdient niemand
Eine niedere Gesellschaft dagegen bestehe aus Personen, die „all deinen Lastern und Torheiten schmeicheln, um dich zum Verkehr mit ihnen zu bewegen“. In welcher Gesellschaft man sich auch bewegt, Geringschätzung verdient niemand. „Es gibt keine so geringfügigen und unbedeutenden Personen, dass sie dir nicht doch irgendwann nützlich zu sein vermöchten, was sie sicher nicht tun werden, wenn du ihnen einmal Verachtung bezeigt hast.“ Unrecht werde oft vergeben, „Verachtung nie“.
- Konzentration aufs Wesentliche: „Leichtfertige Neugier auf Nebensächliches und beflissene Hingabe an Geringfügiges erniedrigen einen Mann“, lernen wir bei Chesterfield. Mit wichtigen Aufgaben werde man einen solchen Charakter nicht betrauen. Wie seltsam erscheint vor diesem Hintergrund die heute verbreitete Wertschätzung von Klatsch und Tratsch, auch bei Personen, die sich für Führungsaufgaben empfehlen wollen!
Sein Ziel hat der Earl of Chesterfield übrigens verfehlt, sein Sohn wurde mehr ein Taugenichts als der erhoffte Gentleman. Und doch gewinnen wir der Lektüre dieser mehr als 250 Jahre alten Briefe noch heute jede Menge wertvolle Ratschläge ab.
Die wichtigsten betreffen eine ganz grundlegende Lebenseinstellung. Es ist gar nicht zu verkennen, dass der Graf seinen Aristoteles gelesen hat, wenn er mahnt: „Ohne Bestreben zu gefallen, kannst du niemals gefallen.“ Oder, um es komplizierter, aber damit auch präziser zu formulieren: „Sei früh das, was du, wenn du es nicht bist, zu spät wünschen wirst, gewesen zu sein.“
Earl of Chesterfield: Über die Kunst, ein Gentleman zu sein: Briefe an seinen Sohn. Übersetzt von Gisbert Haefs, Manesse-Verlag 2019, 320 Seiten, 24 Euro