Die Reise seines Lebens beginnt in Baden: Donaueschingen, Rastatt, Salem, Kehl. Dort überquert 1963 ein junger Mann den Rhein, der Zweite Weltkrieg ist noch keine 20 Jahre vorbei. Er will auf den Spuren Van Goghs in Frankreich und den Niederlanden etwas über die Kunst und auch etwas über sich selbst lernen. Er möchte selbst etwas erschaffen und sich beweisen, und er wird mit Eindrücken und Erlebnissen zurückkommen, mit denen er nie gerechnet hätte.

Sein Name ist Anselm Kiefer. Damals ein auf der Baar geborener Schüler am Gymnasium in Rastatt, heute einer der meistbeachteten deutschen Künstler, soeben 80 Jahre alt geworden, in vielen maßgeblichen Museen der Welt vertreten.

Drei Jahre später, 1966, ist Kiefer erneut unterwegs. Erneut will er sich mit Kunst befassen, reist zum Dominikanerkloster Sainte-Marie de La Tourette bei Lyon. Le Corbusier, damals schon Architekt von Weltrang, hatte es wenige Jahre zuvor entworfen.

Doch unterwegs, in Paris, fasziniert den jungen Anselm Kiefer eine ganz andere ästhetische Ausdrucksform noch viel mehr. Er entdeckt die Haute Couture für sich, verschafft sich findig den Zugang zu den Modenschauen der führenden Modeschöpfer der Zeit. Yves Saint Laurent, Balenciaga, Christian Dior.

Seine Sicht auf Paris

Was Kiefer dann erschafft, erweist sich im Rückblick als wegweisend. Er zeichnet, natürlich. Skizzen dokumentieren nicht nur die Kollektionen und Pariser Straßenszenen. Die Bilder, die jetzt in einer Ausstellung im Schloss Salem zu sehen sind, führen auch unmittelbar vor Augen, wie Kiefer schon in jungen Jahren die Kunst als Erkenntnismittel versteht.

Was später in seinen oft monumentalen Werken überdeutlich ist, ist hier bereits angelegt. Er geht den Dingen auf den Grund, indem er ihnen Form und Gestalt gibt.

Skizzen, Zeichnungen und Tagebücher von Anselm Kiefer sind noch bis Oktober in einer Ausstellung in Schloss Salem zu sehen.
Skizzen, Zeichnungen und Tagebücher von Anselm Kiefer sind noch bis Oktober in einer Ausstellung in Schloss Salem zu sehen. | Bild: Rau, Jörg-Peter

So beginnen viele Künstlerkarrieren, doch der Fall Anselm Kiefer liegt besonders. Denn der Rahmen für seine Reisen ist außergewöhnlich. Kiefer hatte sich für seine Fahrt 1963 um ein Stipendium beworben, mit seinen Eltern hatte er nie verreisen können. Doch die knappe Summe, die Kiefer erhält, ist mit Bedingungen verbunden. Er muss allein reisen, vier Wochen unterwegs sein, ein Studienthema recherchieren und mit dem knappen Budget von 250 Mark auskommen.

Das zwingt ihn, um Hilfe zu bitten und seine Gastländer aus anderer Perspektive kennenzulernen – inklusive Aushilfs-Jobs zur Aufbesserung der Reisekasse. Eine „Initiation“ sei seine Reise von 1963 gewesen, wird der Künstler Jahrzehnte später sagen. Er wird mit einem Preis ausgezeichnet und kann vom Preisgeld nochmals auf Reisen gehen.

Ein Talent im Werden

Das künstlerische Ergebnis dieser zwei Unternehmungen ist das eines Talents im Werden. Zur Haute Couture gibt es eine Mappe mit Zeichnungen, die einen kraftvollen Zugriff auf sein Thema vermitteln. Schnelle, kräftige Striche, ein guter Blick auf das Wesentliche, in einer Mischung aus disziplinierter Arbeit und fast spielerischer Neugierde. Mindestens ebenso aufschlussreich sind die Tagebücher, in denen er einen Einblick in seine Erlebnisse und Empfindungen gibt.

Anselm Kiefer

Es gibt wohl nur wenige lebende Künstler, bei denen ein kleiner, aber entscheidender Teil des Frühwerks so gut offengelegt ist. In Kiefers Fall ist das natürlich so, weil damals niemand von Frühwerk gesprochen hätte. Dass sich Kiefers Karriere in diesen Reisen der Jahre 1963 und 1966 schon abgezeichnet hätte, würde man heute gerne behaupten. Die Ausstellung in Salem, die sie dokumentiert, hält sich mit solchen Schlüssen klugerweise zurück.

Schnelle, kräftige Striche und ein Blick aufs Wesentliche zeichnen die Arbeiten aus.
Schnelle, kräftige Striche und ein Blick aufs Wesentliche zeichnen die Arbeiten aus. | Bild: Schule Schloss Salem / Ilja Mess

Dass Kiefer-Arbeiten ausgerechnet in Salem zu sehen sind, liegt an der Stiftung, die Kiefer damals förderte. Mit dem Ziel der Völkerverständigung übertrug die damalige Mitbegründerin der Schule, Marina Ewald, ein Stipendienprogramm aus Frankreich nach Deutschland: Junge Menschen können in ein fremdes Land reisen, dort Kontakte aufbauen und zugleich sich selbst besser kennenlernen. Erlebnispädagogik, würde man heute sagen, eng verknüpft mit den Salemer Idealen der Reformpädagogik.

Und vielleicht nur, weil es das für alle jungen Menschen zwischen 16 und 20 Jahren offenstehende Stipendienprogramm bis heute gibt, inzwischen von der zis Stiftung für Studienreisen getragen, haben diese frühen Arbeiten von Anselm Kiefer überhaupt überlebt, der Schatz schlummerte über Jahrzehnte in Archiven und wurde nur gelegentlich mal in kleinem Kreis gezeigt. Dass er nun deutlich für eine breite Öffentlichkeit erschlossen wurde, ist der Stiftung Würth zu verdanken.

Multimediale Ausstellung: Erstmals gibt es Einblicke in Kiefers Jugendtagebücher.
Multimediale Ausstellung: Erstmals gibt es Einblicke in Kiefers Jugendtagebücher. | Bild: Schule Schloss Salem / Ilja Mess

Maria Würth, die Enkelin des heute schon legendären Firmengründers und Kunst-Chefin des Unternehmens, wusste schnell, was sich da offenbaren könnte. Sie sorgte dafür, dass zeitweise zwei ganze Räume im Künzelsauer Museum Würth 2 Kiefers beiden Reisen gewidmet waren – genau unter den Sälen, in denen einige seiner späteren Hauptwerke gezeigt werden. Multimedial erschlossen, entstand so eine vollkommen neue Facette in der Beschäftigung mit Kiefer. Das ist kein kleines Verdienst der Partner Schule Schloss Salem, zis Stiftung für Studienreisen, Adolf Würth GmbH & Co. KG sowie Staatliche Schlösser und Gärten Baden-Württemberg.

Der Zauber des Anfangs

Den Bezug zum späteren Weltkünstler kann die Salemer Ausstellung, die auf der Arbeit für Künzelsau aufbaut, nicht in der Breite liefern. Im Schloss liegt der Fokus präzise auf diesen beiden frühen Projekten Kiefers. Doch die geschickt aufgearbeitete und spannend präsentierte Zusammenschau von Tagebüchern, Zeichnungen, Modeskizzen und Fotografien ist auch für sich sehenswert. Nicht nur, aber auch weil in ihr eben auch dieser Zauber des Anfangs steckt – und mit ihm die Ungewissheit, was aus diesem jungen Mann werden könnte, dessen auch künstlerische Lebensreise in Baden begonnen hatte.

„zis Alumnus Anselm Kiefer in Salem“, bis 5. Oktober in der Prälatur von Schloss Salem, Zugang im Eintritt (11 Euro, ermäßigt 5,50) inbegriffen. Geöffnet Montag bis Samstag 9.30 bis 18 Uhr, Sonntag 10.30 bis 18 Uhr.