Martin Schwickert

„Ist Sicherheitsglas“ sagt der Erzieher, um seine Kollegen zu beruhigen. Draußen auf der anderen Seite wütet Benni (Helena Zengel). Gerade ist sie dabei, den ganzen Bestand an Bobby-Cars gegen die Scheibe zu schleudern. Pure, unbändige Wut durchflutet das neunjährige Mädchen.

Dabei setzt sie eine Energie und Ausdauer frei, wie sie eben nur ein Kind mit seiner ungebremsten Emotionalität aufbringen kann. Nach etwa einem Dutzend Bobby-Car-Würfen splittert die Scheibe. Die Sicherheitsverglasung ist Bennis Aggressivität nicht gewachsen – genauso wenig wie das staatliche Betreuungssystem.

Lisa Hagmeister (links) als Bianca Klaas und Helena Zengel als deren Tochter Benni.
Lisa Hagmeister (links) als Bianca Klaas und Helena Zengel als deren Tochter Benni. | Bild: Yunus Roy Imer / Port au Prince Pictures / dpa

Die zuständige Sozialarbeiterin Frau Bafané (Gabriela Maria Schmiede) weiß nicht mehr weiter. Pflegefamilien, Wohngruppen, Sonderschule – überall fliegt Benni nach kürzester Zeit wieder raus. Denn Benni will nur eins: wieder bei ihrer Mutter wohnen, die die Betreuung des nicht zu bändigenden Mädchens dem Jugendamt überlassen hat.

Schließlich schleppt Frau Bafané den Anti-Gewalttrainer Micha (Albrecht Schuch) an, der normalerweise mit straffälligen Jugendlichen arbeitet. Er nimmt Benni mit in eine Hütte im Wald. Kein fließend Wasser, kein Strom, keine Reize, nur Natur. Hier kommt das Mädchen zur Ruhe und lernt, nach einigen Machtkämpfen, ihrem Betreuer zu vertrauen.

Gabriela Maria Schmeide (l) als Sozialarbeiterin Frau Bafané und Helena Zengel als Benni.
Gabriela Maria Schmeide (l) als Sozialarbeiterin Frau Bafané und Helena Zengel als Benni. | Bild: Yunus Roy Imer / Port au Prince Pictures / dpa

„Systemsprenger“ nennt Nora Fingscheidt ihr fulminantes Regiedebüt, das bei der Berlinale mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wurde und für Deutschland ins Oscar-Rennen geht. Der Begriff aus der Sozialpädagogik und bezeichnet Kinder und Jugendliche, die wegen ihrer Aggressivität durch alle Raster des staatlichen Betreuungssystems fallen.

Mit der fabelhaften Hauptdarstellerin Helena Zangel gelingt es Fingscheidt nicht nur, die Sprengkraft eines solchen Kindes zu zeigen, sondern vor allem die enorme Lebensenergie und tiefe Not, die hinter der aggressiven Auflehnung steckt.

Nora Fingscheidt gibt mit „Systemsprenger“ ihr Regiedebüt.
Nora Fingscheidt gibt mit „Systemsprenger“ ihr Regiedebüt. | Bild: Axel Heimken / dpa

Mit jeder Faser ihres Seins scheint sich Benni nach einer festen Bezugsperson zu sehnen, die ihre Mutter nicht mehr sein kann. Gleichzeitig sind die frühkindlichen Gewalt- und Verlusttraumata so groß, dass sie jedem Hilfsangebot mit misstrauischer Aggressivität begegnet. Dass die Regisseurin für ihr Sujet brennt, erkennt man in jeder Minute des Films.

Die Energie der jungen Systemsprengerin treibt den Film dynamisch voran, der aber auch immer wieder Momente von herzzerreißender Ruhe und Nähe findet. Als Micha mit Benni einen Berg besteigt, fordert er sie oben auf, das Echo auszuprobieren.

„Mama!“, ruft das Mädchen immer wieder in den Wald hinein – und in ihrer machtvollen Stimme hört man die ganze Sehnsucht, Wut, Kraft und Verzweiflung eines liebesbedürftigen Kindes widerhallen.