Unsere Kinder müssen Gedichte noch auswendig lernen. „Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind!“ Und so weiter. Aber erwachsene Leser? Liebhaber von zeitgenössischer Lyrik? Gibt es kaum noch.

Schnell gelesen

Das muss erstaunen. Denn anders als ein Roman ist so ein Gedicht meist schnell gelesen. Im immer hektischer werdenden Alltag müsste uns das entgegenkommen. Allerdings bemisst sich die Länge eines Gedichts nicht an der Anzahl seiner Verse, sondern an seiner Gestalt und unseren Erwartungen.

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Bei den Gedichten, sagt der Philosoph Byung Chul-Han, genießen wir die Sprache selbst. Jedenfalls sofern wir es können. Leider begreifen wir Sprache fast nur noch als technisches Kommunikationsmittel. Dann wird es schwer mit dem Genuss.

Reinste Zeitverschwendung

Ein Satz ohne verwertbare Information kann uns nicht mehr befriedigen. Er kommt uns vor wie reinste Zeitverschwendung. Wozu sich mit einer bloßen Hülle beschäftigen, wenn sich dahinter gar kein Inhalt verbirgt?

Japaner ehren die Hülle

In anderen Kulturen scheint dieser Gedanke nicht so abwegig. Japaner zum Beispiel legen auf die Hülle eines Geschenks größeren Wert als auf seinen Inhalt. Sogar der Akt des Überreichens folgt strengen Regeln: mit Niederknien, Verbeugen, Hände falten. Wer hier als Schenkender alles richtig macht, braucht sich um den Erfolg nicht zu sorgen. Selbst wenn das Präsent nur aus Luft besteht, wird der Beschenkte glücklich sein. Japaner lesen täglich Gedichte, in Internet-Foren, auf Zeitungsseiten, an Plakatwänden.

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Auch wir Europäer besaßen einmal die Fähigkeit, aus äußeren Formen inneres Glück zu beziehen. Es war zu einer Zeit, bevor Konsum, Produktivität und Kommerz unser Denken und Fühlen bestimmten. Als etwa Musik einfach nur da war, statt wie heute einen Zweck erfüllen zu müssen – aufputschen, beruhigen, ablenken. Ganz ähnlich verhielt es sich mit Gedichten, die nichts weiter zu sein brauchten als eine luftige Gestalt aus Reim, Metrum, Rhythmus.

Gieriges Reißen

Heute reißen wir zu Weihnachten und an Geburtstagen gierig Geschenkpapier in Stücke: Die Form zählt wenig, auf den Inhalt kommt es an. Was nicht unser Bedürfnis nach Konsum, Verwertung, Nützlichkeit befriedigt, gilt als vertane Zeit. Deshalb erscheint es uns so wichtig, ein Gedicht zu interpretieren. Auf der Suche nach dem tieferen Sinn hinter der äußeren Form zerbrechen sich ganze Schulklassen den Kopf: Sie ahnen nicht, dass doch die Form selbst ein größeres Geschenk ist als jede noch so gescheite Deutung.