Jeder Mensch hat in seinem Leben mindestens eine Geschichte, von der er nicht möchte, dass andere sie erfahren. Sie muss nicht dramatisch sein, keine existenzbedrohende Sache. Aber doch peinlich, schmerzhaft oder gefährlich genug, um sich einer öffentlichen Erörterung zu entziehen. Und gerade so wichtig, dass es uns nicht gelingt, sie einfach zu vergessen.

Bis in den Tod

Der österreichische Autor Norbert Gstrein zeigt: Es kann so etwas Flüchtiges wie ein Kuss sein, der uns auf diese Weise bis in den Tod verfolgt. In seinem neuen Roman „Als ich jung war“ trifft es den Icherzähler Franz, Sohn eines mäßig erfolgreichen Gastwirts aus dem Alpenraum. In der Schule leidlich erfolgreich, musste er als Jugendlicher im Gasthof aushelfen: als Fotograf für die Hochzeitsgesellschaften.

Das könnte Sie auch interessieren

Es ist einmal bei einer solchen Gelegenheit eine Braut unter dubiosen Umständen ums Leben gekommen. Tief in der Nacht von einer Klippe gestürzt, ausgerechnet dort, wo er die Brautpaare am liebsten posieren ließ. Franz selbst trug an dem Unglück freilich keine Schuld. Und doch: Je länger er seinen Leser an der Reise in die Vergangenheit teilnehmen lässt, desto mehr drängt sich ein gegenteiliger Eindruck auf.

Dreimal „nicht“

Nur wenige Wochen zuvor nämlich hatte er an genau dieser Stelle ein Mädchen geküsst. Eine junge Geigerin, die ihm erst zugeneigt schien, dann aber dreimal „nicht“ sagte und sich zaghaft zu wehren versuchte. Sie schien danach sichtlich verstört und ließ sich nie wieder im Ort blicken. So etwas kommt vor. Und doch stellt sich die Frage, wie harmlos dieses peinliche Missverständnis tatsächlich gewesen sein mag.

Norbert Gstrein zählt zu den bedeutendsten Gegenwartsautoren Österreichs.
Norbert Gstrein zählt zu den bedeutendsten Gegenwartsautoren Österreichs. | Bild: Peter Hassiepen

Das Mädchen, erinnert sich Franz, habe damals gesagt, sie gehe auf die Siebzehn zu. Wer so spricht, ist wahrscheinlich in Wahrheit nicht einmal Sechzehn. War er damals zu weit gegangen? Trifft womöglich der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen?

Ermittlungen eines Kommissars

Ein Kommissar taucht auf. Ihm lässt der Todesfall von damals bis heute keine Ruhe. Doch als Leser versteht man schon bald: Dieser Kommissar existiert vor allem in der Fantasie des von seiner Erinnerung geplagten Franz. Und dort ermittelt er nun mit erbarmungsloser Akribie.

Das könnte Sie auch interessieren

Die junge Geigerin, rechnet er ihm vor, könne allenfalls 13 Jahre alt gewesen sein. Heute habe sie unter neuem Namen eine Weltkarriere hingelegt: eine international bewunderte Musikerin, die in Interviews nur dann auffällig schweigsam werde, wenn es um Themen wie sexuellen Missbrauch geht. Es scheine gerade so, als trage sie ein Trauma mit sich herum.

Ungelenke Annäherung

Eine womöglich falsch eingeschätztes Alter. Ein ungelenker Annäherungsversuch. Eine peinliche Situation. Und jetzt dreht sich im Rückblick alles um dieses fatale Missverständnis. Die Logik lautet: Wer gegenüber einer Minderjährigen übergriffig geworden ist, kommt auch als Mörder der Braut in Betracht.

Ein Leben im Zwielicht

Dass Franz damals zum Studium nach Amerika ausgewandert ist, wo er dann doch wieder bloß als Skilehrer arbeitete: Muss das nicht im Zusammenhang mit alldem wie ein Fluchtversuch wirken? Wenn sein Bruder heute über den damaligen Unglücksfall mit seltsamen Andeutungen spricht: Verdächtigt er ihn etwa? So vermag eine kleine, nur vermeintlich unbedeutende Episode, ein ganzes Leben ins Zwielicht zu rücken.

Das könnte Sie auch interessieren

Jeder Mensch hat in seinem Leben mindestens eine Geschichte, von der er nicht möchte, dass andere sie erfahren. Diese Erkenntnis entstammt nicht Franz‘ eigenen Überlegungen. Er hat sie einem Skischüler zu verdanken: einem Mann, der seinerseits mit dunklen Erinnerungen zu kämpfen scheint.

Selbstmord als Ausweg

Der Schüler, der auf diese Weise zum Lehrmeister mutiert, sieht bald keinen anderen Ausweg als den Selbstmord. Franz dagegen will die Sache offensiv angehen: ein Treffen mit der heute erfolgreichen Geigerin. Einfach vor ihrem nächsten Auftritt nach Luzern fahren, ihr vor dem Hotel auflauern. Und dann beobachten, wie sie reagiert.

Kleine Episode

Vielleicht lacht sie ja, signalisiert eine mehr amüsierte Erinnerung an die kleine Episode. Oder sie hat alles längst vergessen. Fürchterlich wäre nur der dritte Fall: entsetztes Erkennen, angstvolles Schreien. Mit der so lange zurückliegenden Tat doch noch Frieden zu schließen – es wäre unter dieser Voraussetzung unmöglich.

Schlüssig durchkomponiert

Unser Lebensglück hängt auch davon ab, wie viel Schuld wir in der Vergangenheit auf uns geladen haben. Mit seiner unspektakulären, aber schlüssig durchkomponierten Seelenstudie offenbart Norbert Gstrein unser Dilemma: Die Art und den Umfang dieser Schuld nämlich kennen wir selbst nicht. Und für eine nachträgliche Befragung anderer ist es oft schon zu spät.

Norbert Gstrein: „Als ich jung war“, Roman, Hanser Verlag: München 2019; 352 Seiten; 23 Euro.