Die Alpen sind – mit unabsehbaren Folgen für die Ökologie – ein Hotspot des internationalen Tourismus. Wahre Menschenströme ergießen sich Jahr für Jahr in die Täler des Gebirges, das heute als Synonym für die Bergbegeisterung dient. Das war nicht immer so. Der Alpinismus ist ein Kind des 19. Jahrhunderts. Bis dahin galten Reisen ins Hochgebirge als mühselig und gefahrvoll.
Woher also die Bergbegeisterung? Wer weckte die alpine Lust? Es waren Dichter und Künstler, die einen neuen Blick auf die Gebirgswelt kultivierten und das allgemeine Interesse weckten. Für sie boten die Alpen Anschauungsmaterial für die Schönheiten der Natur – und für das Erhabene. Das avancierte bei Immanuel Kant (1724-1804) und Edmund Burke (1729-1797) zur zentralen Kategorie der Ästhetik neben dem Schönen.
Auch ein junger Engländer bereiste 1802 in Erwartung erhabener Natur die Alpen. William Turner (1775-1851) kannte die Gebirgswelt von Schottland und Wales. Eine noch eindringlichere Erfahrung des Erhabenen erhoffte er sich von den Alpen. Und er wurde nicht enttäuscht: Zwischen 1802 und 1844 bereiste er sechs Mal die Alpen.

Während seine Landsleute jedoch die Gipfel stürmten (zahlreiche Erstbesteigungen in den Alpen gehen auf das Konto von Briten), hat Turner nie auch nur einen Berg bestiegen. Sein wahres Terrain waren Papier und Leinwand: Das Hochgebirge, wenn man so will, eroberte er sich mit Pinsel, Zeichenstift und Pupille.
Seine Eindrücke, die er vor Ort in Skizzenbüchern festhielt, verarbeitete er im heimischen London in großformatigen Gemälden und stimmungsvollen Aquarellen. Fast immer diente ihm Luzern als Ausgangspunkt für seine künstlerischen Erkundungsfahrten.
Hier die Berge, dort das Meer
Mit gut 100 Gemälden, Zeichnungen und Aquarellen erinnert jetzt das Kunstmuseum Luzern daran: in der in Zusammenarbeit mit der Tate London realisierten Ausstellung „Turner. Das Meer und die Alpen“.
Turner war ein Zeitgenosse Caspar David Friedrichs. Seine Schaffenszeit fällt in die Hochphase der europäischen Romantik. Er selbst war kein Romantiker – jedenfalls kein lupenreiner. Natur und Landschaft dienten ihm weniger als Projektionsfläche für Empfindungen. Sie waren ein Spielfeld gewaltiger Kräfte, eine Bühne der Veränderung.
Ein Romantiker war Turner nicht
Turners Malerei erfindet und idealisiert nicht, sie ist von Wirklichkeit durchtränkt. Von der romantisierenden und idealisierenden Zeittendenz hebt er sich bereits durch das breite Spektrum seiner Motive ab. Ganz unromantisch schiebt sich da militärisches Gerät ins Bild – wie in dem Aquarell „Kleine Boote neben einem Kriegsschiff“.
Ein Blatt des 21-Jährigen macht das italienische Aostatal zum Schauplatz einer Schlacht. Und in zahlreichen Darstellungen von Alpenschluchten lenkt Turner den Blick auf eine unzugängliche, unschöne, abschreckende Natur. Seine Darstellungen von Gletschern oder der Gotthardstraße – mit Ausblick ins Reuss-
tal und zersplitterten Bäumen im Vordergrund – reine Anti-Idyllen!

Früh entwickelt Turner einen Blick für die Zerstörungskraft der Natur. Das Ölgemälde „Niedergang einer Lawine in Graubünden“ ist vielleicht das erste Lawinenbild der Kunstgeschichte. Gemalt haben dürfte er es nicht ohne allegorischen Seitenblick auf die Napoleonischen Kriege.
Im Aquarell „Goldau mit dem Zugersee in der Ferne“ lebt schon in der Dramatik der Farben die Erinnerung an einen Bergsturz nach, der 1806 hunderte Menschenleben forderte. Zu Turners Repertoire gehören nicht zuletzt auch Unwetter im Gebirge.
Die Gewalt der Natur
Ein Tummelplatz entfesselter, chaotischer Kräfte ist Natur auch in den Meeresbildern. In „Fischer auf See“ kündigt sich diese Sicht bei Mondschein und bewegtem Wellengang bereits an. Die Darstellung von Schiffbrüchen – ein wiederkehrendes Motiv der Malerei – veranschaulicht die Gewalt der Natur und die Wechselhaftigkeit des Glücks.

Zu dem konventionellen Thema treten in Turners Werk auch Darstellungen von Stürmen auf hoher See ganz ohne menschliche Präsenz. Im freien Spiel entfesselter Elemente enthüllt sich das wahre Antlitz der Natur. Die Seeungeheuer verschiedener Bilder wollen als Inkarnation blind waltender zerstörerischer Kräfte der Natur erscheinen.
Dabei ging es Turner nie um eine naturalistische Darstellung. „Atmosphere is my style“, bemerkte er einmal. Atmosphäre ist sein Stil. In die Kunstgeschichte eingeschrieben hat er sich denn auch mit so hinreißenden Bildern wie „Ein Fluss von einem Hügel aus gesehen“ oder, ganz zu Beginn, „Sonnenuntergang über einem See“.
Einer der ersten modernen Künstler
Ein Ahnherr James Turrells, löst Turner darin das Motiv mit malerischen Mitteln in vom Gegenstand weitgehend befreite Farbspiele, in farbiges Licht auf. William Turner, kein Zweifel, war einer der ersten modernen Künstler. Und einer der kühnsten und originellsten dazu.
Die Ausstellung „Turner – das Meer und die Alpen„ ist bis 13. Oktober 2019 im Kunstmuseum Luzern zu sehen. Geöffnet ist die Schau Dienstag bis Sonntag von 10 bis 19 Uhr. Weitere Informationen finden Sie hier.