In Ischgl fing alles an: Skitouristen aus aller Welt steckten sich in der Bar „Kitzloch“ mit dem Coronavirus an, importierten es anschließend in ihre Heimatländer. Allein in Dänemark soll heute sage und schreibe jeder dritte Infektionsfall auf dieses eine Bergdorf zurückzuführen sein, in Schweden ist es noch jeder sechste.

Die Seuche kam nicht schicksalhaft: Kneipenbetreiber sollen das Risiko fahrlässig heruntergespielt und sogar Schließungsanordnungen bewusst missachtet haben. Was ist das für ein Ort, an dem Menschen offenbar buchstäblich über Leichen gehen?

Bilder aus einer anderen Welt

Lois Hechenblaikner hat ihn sich bereits im vergangenen Jahr näher angesehen. Was er von seinem Aufenthalt mitbrachte, sind Bilder aus einer anderen Welt. Eine Welt, die mal im weiteren Sinne seine Heimat war – in Tirol ist der Fotokünstler nämlich aufgewachsen.

Auch bei Minusgraden machen sich die Touristen gerne frei.
Auch bei Minusgraden machen sich die Touristen gerne frei. | Bild: Lois Hechenblaikner

Und auf den ersten der 240 Seiten wirkt diese Heimat auch noch wie ein ganz gewöhnliches Urlaubsziel. Wir sehen die mehr und weniger begabten Freizeitsportler teils in eleganten Schwüngen, teil im Schneepflug die Pisten herunterfahren, an den Talstationen stauen sich Schaulustige vor Kiosken und Showbühnen: der übliche Zirkus in der winterlichen Naturkulisse.

Die andere, neue Welt zeigt sich erst in Nahaufnahme.

Besäufnis mit Hilfestellung: Szenen wie diese gehören in Ischgl zu harmloseren.
Besäufnis mit Hilfestellung: Szenen wie diese gehören in Ischgl zu harmloseren. | Bild: Lois Hechenblaikner

Männer, die sich auf ihren T-Shirts als „geile Sau“ vorstellen, die nach „Fotzen“ sucht, um ihnen „Brustvergrößerung durch Handauflegen“ zu versprechen, treffen auf Frauen, die volltrunken in einem Meer von Bierflaschen liegen, mit anzüglichen Gesten ihre Beine breit machen oder gleich die „geile Sau“ oral befriedigen – auf der Piste, in Skistiefeln. Man kann solche Bilder nicht guten Gewissens in diesem Beitrag abbilden, deshalb gibt es an dieser Stelle nur die harmlosesten, familientauglichsten Exemplare aus Hechenblaikners Band.

„Enter here“ steht schwach lesbar oberhalb der Körperöffnung geschrieben.
„Enter here“ steht schwach lesbar oberhalb der Körperöffnung geschrieben. | Bild: Lois Hechenblaikner

Die Erinnerung an feinsinnige Debatten um politisch korrekte Sprechformen wirkt wie ein absurder Witz, wenn die „Muschifreunde“ aus Karlsruhe anrücken, sich Männer Dildos auf die Helme schnallen und eine Table-Dance-Bar zum „Abwedeln“ bei der Après-Ski-Party mit „perfekter Frauenquote“ ruft. „Wir reißen uns für euch den Arsch auf!“, steht quer über ein weibliches Hinterteil geschrieben. Und weil mancher das offenbar als Handlungsanweisung versteht, wird bald eine Sexpuppe anal mit Möhren und Grünzeug traktiert.

Die Sexismusdebatten der vergangenen Jahre scheinen hier wenig gefruchtet zu haben.
Die Sexismusdebatten der vergangenen Jahre scheinen hier wenig gefruchtet zu haben. | Bild: Lois Hechenblaikner

Was ist das? Ein Abenteuerspielplatz für Zukurzgekommene? Unmengen an Champagner und Bewirtungsbelege von knapp 9000 Euro sprechen ebenso dagegen wie die Luxusschlitten auf den Hotelparkplätzen. Nein, das ist nicht der Frust von Abgehängten, der sich hier entlädt. Es handelt sich vielmehr um einen Exzess der Oberschicht.

Topmanager werden Kleinkinder

Es ist, als verwandele der Schnee Topmanager zu Kleinkindern. Ihr Seelenheil erwarten sie allein vom totalen Konsum im Hier und Jetzt. Im von Pflichten und Verantwortlichkeiten bestimmten Arbeitsalltag gibt es dafür aber kaum Zeit und Platz. Umso mehr erscheint ihnen die unwirkliche Winterwelt wie eine Einladung zum Fallenlassen: umgeworfen vom Champagner, sachte aufgefangen vom Schnee.

An Bier herrscht kein Mangel, wenn in Ischgl die Skisaison beginnt.
An Bier herrscht kein Mangel, wenn in Ischgl die Skisaison beginnt. | Bild: Lois Hechenblaikner

Bei Hechenblaikner wird der Winterurlaub zu einem einzigen Rausch. Das Schneetreiben auf der Piste verschwimmt mit Alkoholorgien in der Kneipe. Und immer steckt irgendeine Hand in irgendeiner Bluse oder zwischen irgendwelchen Beinen.

Es gibt keine Kommentierungen zu diesen Szenen, der Künstler lässt die Bilder für sich stehen. Und doch spricht eine unverkennbare Wut aus ihnen, das Leiden eines Mannes, der sich um seine Heimat gebracht fühlt.

Ischgl-Touristen werden ihn für diese Einseitigkeit kritisieren. Sie werden einwenden, dass er nur einen Ausschnitt zeige, die Auswüchse eines Tourismus, der in Wahrheit sehr wohl auch Stille, Naturerleben und Alpenromantik kenne. Mag sein, dass das stimmt. Hechenblaikner aber geht es nun mal nicht um ein objektives Porträt. Sondern um die Enthemmung und das Geschäft mit ihr.

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Wie lukrativ das ist, lässt sich an Bildern ablesen, die offenbar das Leben nach dem Winterwahnsinn zeigen. Da treiben Ischgler Bauern ihre Kühe in Anhänger zum Transport auf die Alm, und ein Musikzug läutet in Tracht den Frühling ein. Alles läuft ab wie in den guten alten Zeiten. Allein der Blick hinter die Kulissen verrät den Unterschied: In einer Garage steht neben dem Radlader – ein schwarzer Lamborghini.

Lois Hechenblaikner: „Ischgl“, Steidl Verlag: Göttingen 2020; 240 Seiten, 34 Euro.