Liebe Frau Glück,

herzlichen Glückwunsch zum Literaturnobelpreis! Manche glauben ja, sein Sinn bestehe darin, Prominenz zu belohnen statt Qualität. Wieder andere sind der Ansicht, Qualität bringe die Prominenz ganz von alleine hervor. Was immer man von Ihren Werken halten mag: Allein die Tatsache, dass es sich dabei um Lyrik handelt, beweist das Gegenteil.

Die amerikanische Lyrikerin Louise Glück erhält in diesem Jahr den Literaturnobelpreis. Wie die Schwedische Akademie am Donnerstag in ...
Die amerikanische Lyrikerin Louise Glück erhält in diesem Jahr den Literaturnobelpreis. Wie die Schwedische Akademie am Donnerstag in Stockholm bekannt gab, wird die 77-Jährige „für ihre unverkennbare poetische Stimme“ ausgezeichnet, mit der sie „mit strenger Schönheit die individuelle Existenz universell“ mache. | Bild: dpa/Shawn Thew

Wer heute an Gedichte denkt, dem kommt Goethes Erlkönig in den Sinn oder Rilkes Panther. Ein aktueller Autorenname dagegen dürfte den wenigsten einfallen – auch nicht Louise Glück. Wäre Prominenz eine logische Folge von Qualität, bedeutete dies: Es gibt keine guten Gedichte mehr. Und das obwohl so viel gedichtet wird wie nie zuvor, von Poetry-Slams über Schreibwerkstätten bis zu den Produktionsstudios der Rapmusik.

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Die Wahrheit ist: Nicht die Lyrik steckt in der Krise, sondern die Menschen, die sie nicht mehr verstehen. Sprache ist für sie bloß ein technisches Instrument. Sie kommunizieren damit in der Erwartung neuer Botschaften oder Handlungsanweisungen. Stets gilt es, ein Stück weiter zu kommen auf diesem Weg, den sie Fortschritt nennen.

Dabei wird Sprache zu einer mathematischen Formelsammlung mit richtigen und falschen Lösungen, mit merkwürdigen Symbolen und immer komplizierteren Regeln. Dass sie auch ein ästhetisches Phänomen sein kann, in dem sich Stimmungen, Charaktere, Ungewissheiten spiegeln, geht vielen nicht in den Kopf. Sprechen, nur um des Sprechens Willen – wer macht denn so was?

Zum Beispiel die Menschen in Fernost. Japaner pflegen für bestimmte Alltagsanlässe eine eigene rituelle Sprache. Das sogenannte Keigo besteht aus uralten Formulierungen, die keinerlei Erkenntnisfortschritt bieten. Wer sie alle beherrscht, wird als Meister bewundert. Hierzulande gilt das als Zeitverschwendung.

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Frau Glück, ich will ehrlich sein, die erste Lektüre Ihrer Gedichte enttäuschte mich. Es ist darin von „glänzenden Hügeln“ die Rede und „langen Schatten der Ahornbäume“, sie bilden Begriffspaare wie „Schrecken und Kälte“, „rot und dicht“: Das hat was von Rosamunde Pilcher, falls Ihnen dieser Name etwas sagt.

Aber dann las ich in der Jurybegründung: „Sie nimmt ihre Leser mit auf eine Reise zu ihren tiefsten und inneren Gefühlen in ihren Gedichten, die viele Menschen lesen und verstehen können.“ Und in der Tat, das trifft einen wunden Punkt.

Es hat sich nämlich nicht nur der Mensch von der Lyrik entfernt, sondern auch die Lyrik vom Menschen. Schuld ist eine Verwissenschaftlichung von Kunst, wie sie vor allem in der Fortschreibung der sogenannten klassischen Musik zu erleben war: Harmonie muss per se kitschverdächtig sein, Schlichtheit ein Ausdruck von Naivität. Auch Künstler erliegen dem fatalen Irrglauben, der Mensch könne und müsse sich zu einem Übermenschen fortentwickeln.

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In Ihrem Heimatland stehen Präsidentschaftswahlen an. Die Stimmung ist aufgeheizt, Sprache steht im Mittelpunkt eines ideologischen Konflikts zwischen Barbaren und Moralaposteln. Mitten hinein vergibt das Nobelpreiskomitee den wichtigsten Literaturpreis: an eine Lyrikerin, die über Ahornbäume schreibt. Großartig.

Johannes Bruggaier

Kulturredaktion