Wäre Sagenheld Siegfried nicht in den Besitz eines Tarnmantels geraten, hätte er den Nibelungenschatz wohl nie erblickt. Sich unsichtbar machen können, das ist ein alter Menschheitstraum. Doch damit ist jetzt Schluss: Sichtbar machen lautet das Gebot der Stunde.
Da ist zum Beispiel das neue Buch über Bewohnerinnen eines Schweizer Hochtals: Schon im Vorwort stellt die Autorin klar, sie habe „sichtbar machen“ wollen, was diese Frauen leisten. Andernorts lässt uns ein Illustrator wissen, er wolle mit seinem Werk „Menschen sichtbar machen, die prekäre Arbeit verrichten“. Eine Kulturmanagerin beklagt den geringen Anteil weiblicher Musiker in der Klassik und nimmt uns Journalisten in die Pflicht: Die wenigen umso mehr „sichtbar zu machen“ sei unsere Aufgabe! Und an einer Schule sollen Gendersternchen helfen, gleich „alle Menschen sichtbar zu machen“.
Unsichtbar geworden scheint dagegen manch anderes Wort unserer Sprache. Zeigen zum Beispiel, vorstellen, porträtieren. Heißt jetzt alles: sichtbar machen. Nicht mehr lange, dann wird uns auch der Passant auf der Straße fragen: „Verzeihung, könnten Sie mir vielleicht den Weg zur Apotheke … sichtbar machen?“ Oder beim Fotografen: „Eine Sichtbarmachung für die Bewerbungsmappe bitte!“
Alles, nur keine nüchterne Wahrheit
Geht es in Kultur und Medien darum, Menschen sichtbar zu machen, möchte man annehmen, bei diesem Prozess die reine und unverfälschte Wirklichkeit zu erblicken. Schließlich wird ja ausdrücklich nichts gespielt, gestellt oder inszeniert, sondern eben nur: sichtbar gemacht. Doch indem solche Sichtbarmacher zur Tat schreiten, ziehen sie nicht bloß einen profanen Vorhang beiseite, damit endlich die nüchterne, bislang verdeckt vor sich hin schlummernde Wahrheit ans Licht kommt. Ganz im Gegenteil: Sobald das vermeintlich neutrale Wort sichtbar auftaucht, darf man mit verkannten Heroen des Alltags rechnen, mit Menschen, die vollkommen zu Unrecht im Abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit standen.
Bei den sichtbar gewordenen Bewohnerinnen des Schweizer Hochtals also handelt es sich erwartungsgemäß um zupackende Hoteldirektorinnen, einfühlsame Therapeutinnen, zähe Hüttenwirtinnen. Und nicht etwa um Menschen wie du und ich, voller Widersprüche, mit fragwürdigen Ansichten, unsympathischen Charakterzügen. Genau hier stößt die neue Kultur des Sichtbarmachens an Grenzen. Denn in unserem eigenen Leben treffen wir solche heroischen Gestalten höchst selten an, da dominiert der langweilige Typus des Mängelwesens.
Spricht etwas dagegen, Helden des Alltags zu würdigen? Keineswegs. Die Literatur wie auch die Geschichtsschreibung ist voll von ihnen: von lange unterschätzten, ignorierten, ja verachteten Figuren, die schließlich doch noch ihre verdiente Anerkennung fanden. Man hat sie in Zeitungen porträtiert, auf Theaterbühnen inszeniert, in Jubel-Arien glorifiziert. Nur eines wurden sie nie: sichtbar gemacht.
Wer Lob für seine verkannte Arbeit verdient, dem sollten wir also eine Präsentation gönnen, wenigstens ein klitzekleines Porträt. Bloße Sichtbarkeit aber ist in unserer erbarmungslos urteilenden Internet-Öffentlichkeit ein zweifelhaftes Vergnügen. Siegfried wusste schon, was er an seinem Mantel hat.