Endlich wird der ach so schlaue Aufklärer Immanuel Kant entzaubert. Sein Sapere aude, „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ (kurz: Denk doch mal selbst, Mensch!), ist passé. Deutschland denkt nicht nur, Deutschland denkt jetzt zu Ende.

So las ich neulich in einem anderen Medium einen Leserbrief, wonach man – zu Ende gedacht – auch keine Kartoffeln mehr essen dürfe, wenn man sich daran störe, dass Seniorinnen mit Sombrero auf dem Kopf tanzen.

An anderer Stelle bat Oliver Glasner, Trainer von Fußball-Bundesligist Eintracht Frankfurt, darum, dass man seine Weigerung, eine vom Verein angebotene Vertragsverlängerung zu unterzeichnen, keinesfalls als Egoismus deuten dürfe, sondern das – zu Ende gedacht – ganz im Gegenteil ein Dienst am Verein sei.

Aber das darf man ja heute auch nicht mehr sagen

Ihnen erschließt sich beides nicht? Wunderbar, dann haben sie das Prinzip des Zu-Ende-Denkens schon völlig verstanden. Man nimmt einen Sachverhalt, betrachtet ihn allein von einer Seite, steigert das ins Abstruse, zack, zu Ende gedacht! Wer diesem blitzartig genialen rhetorischen Trick noch einen Donnerhall versehen will, setzt nach Ende des Satzes eine bewusste Pause und dann: „Aber das darf man ja heute auch nicht mehr sagen!“ Rumms.

Bequemerweise ist es so auch möglich, diverse Dinge als nicht zu Ende gedacht zu bezeichnen. Einer kurzen Internetrecherche nach wurde das in den vergangenen Wochen in diversen Medien der Cannabis-Legalisierung, dem Deutschlandticket und der Energiewende unterstellt. Attestiert zu Ende gedacht sind demnach nur wenige Dinge (Videokonferenzen und Burger).

So geht zu Ende denken

Diese umfangreiche Neuorientierung im deutschen Denkwesen muss nun schleunigst in die Schulzimmer der Republik gebracht werden. Diese elendlichen Erörterungen, Pro-Argumente, Contra-Argumente, alles abwägen, uff, was ein Geraffel, das muss doch alles nicht mehr sein.

Beginnen wir lieber gleich eine Lektion im Zu-Ende-Denken. Thematisch immer ein Kracher sind selbstverständlich das Gendern oder die Grünen, wer sich hier gut anstellt, entwirft nebenbei noch ein ganzes Bühnenprogramm für Dieter Nuhr.

Nehmen wir mal die Affäre Graichen/Habeck her. Familiäre Verwicklungen und so. Setzen Sie an: „Ha, das musst du mal zu Ende denken, wenn sowas in Berlin erlaubt ist, bring‘ ich bald auch meine Frau mit zur Arbeit, kann die mir Kaffee kochen und mein Chef bezahlt‘s!“ Pause. „Aber darf man ja heute auch nicht mehr sagen.“ Genial, Glückwunsch! Neben Ihnen wirkt der Erleuchter Kant wie ein ganz dürrer intellektueller Schattenspender.