Warum denn nur? Viele Eltern sind fassungslos, wenn ihre Kinder den Kontakt zu ihnen abbrechen. Auch für Roswitha Prömper kam der Bruch mit ihrem Sohn wie aus heiterem Himmel.

Eines Tages wartete sie vor seiner Wohnung, weil sie mit ihm zum Einkaufen verabredet war, doch er öffnete die Tür nicht. „Ich habe Musik von drinnen gehört und wusste, dass er da ist. Also habe ich nochmal geklingelt“, sagt Prömper dem SÜDKURIER. „Da wurde die Musik aber nur lauter. Irgendwann bin ich wieder gefahren. Das war‘s.“

Jahrelang hörte sie nichts mehr von ihm, ohne dass sie seine Motive gekannt hätte. Dann tauchte er plötzlich reumütig wieder auf, wollte aber nicht über das Geschehene reden. Zum Abschied sagte er „Ich liebe dich!“ und versprach, sich ab sofort regelmäßig zu melden.

Gehört hat Prömper aber nie etwas. „Das ist jetzt ungefähr 15 Jahre her.“ Sie hatte zwar nochmal versucht, Kontakt aufzunehmen, doch E-Mail-Adresse und Handynummer stimmten inzwischen nicht mehr. „Danach hatte ich die Schnauze voll“, sagt Prömper, die eine Selbsthilfegruppe in Berlin leitet.

„Man geht mit dem Gedanken an das Kind ins Bett“

In all den Jahren hat sie gelernt, ihren Schmerz zu verarbeiten. „Anfangs war es furchtbar. Man geht mit dem Gedanken an das Kind ins Bett und steht mit dem Gedanken an das Kind wieder auf“, erzählt sie. Ähnliches berichten auch andere Eltern, deren erwachsene Kinder sich von ihnen abgewandt haben. „Ein Kontaktabbruch gehört zu den schmerzvollsten Dingen, die Eltern passieren können“, schreibt Claudia Haarmann in ihrem Buch „Der Schmerz verlassener Eltern“. Für Betroffene sei das „wie ein Beben, ein Einbruch“.

Manchmal werden sie in ihren Grundfesten erschüttert. Aus einer Selbsthilfegruppe ist zu hören, dass eine alte Dame einen Suizidversuch unternommen hat, weil ihr Sohn nichts mehr von ihr wissen wollte.

Das könnte Sie auch interessieren

Dabei handelt es sich in der Regel nicht um Familien, in denen erschreckende Zustände herrschen. „So ein heftiger Konflikt trifft Freunde und Verwandte, Nachbarn und Bekannte, er findet sich überall“, berichtet Haarmann. Nur wird nicht gern darüber geredet.

Automatisch steht die Frage im Raum: Was ist bloß mit Eltern los, von denen sich das Kind abwendet? Zur eigenen Trauer und Erschütterung gesellen sich daher oft Scham und das Bedürfnis, sich nach außen zu schützen.

Keine konkreten Zahlen

Konkrete Zahlen dazu, wie häufig Kontaktabbrüche vorkommen, gibt es nicht. Daten der Längsschnittstudie „pairfam“, die familiäre Lebenssituationen in Deutschland untersucht, weisen aber darauf hin, dass Eltern und erwachsene Kinder häufig auseinanderdriften.

So werteten Soziologen der Uni Halle Daten von mehr als 10.000 Studienteilnehmern aus und kamen zu dem Schluss, dass es bei jedem fünften Erwachsenen im Lauf des Lebens zu einer Entfremdung vom Vater kam und bei jedem zehnten zu einer Entfremdung von der Mutter. Hintergrund waren oft einschneidende Erlebnisse, etwa die Trennung der Eltern.

„Es herrscht eine angepasste Friedlichkeit“

Der Berliner Psychotherapeut Wolfgang Krüger geht sogar davon aus, dass es in fast allen Familien Fälle von Kontaktabbrüchen im weiteren Sinn gibt – sei es ein Onkel, der geschnitten wird, oder eine Nichte, die sich abgewandt hat. „Das hat mit der Einstellung zu Konflikten in Deutschland zu tun“, sagt er. Vor dem Hintergrund der Kriegs-Erfahrungen überwiege die Angst, Dinge offen anzusprechen – ein Schweigen, das von den Großeltern an nachfolgende Generationen weitergegeben wird.

„Es herrscht eine angepasste Friedlichkeit. Im Hinterkopf dominiert der Satz: Man darf sich nicht streiten“, erklärt der Psychologe. Um zu vermeiden, Konflikte auszutragen, geht man lieber auf Distanz. Dafür könnte sprechen, dass Eltern – wie Prömper – oft gar nicht klar ist, warum sich die Kinder abgewandt haben.

Wolfgang Krüger
Wolfgang Krüger | Bild: Sina Schuldt

Auch andere Therapeuten sind davon überzeugt, dass der Generationenkonflikt eine wichtige Rolle spielt. So melden sich bei dem Münchener Familientherapeuten Jochen Rögelein vor allem Erwachsene in ihren 20ern und 30ern, die Probleme mit den Eltern haben.

„Diese Kontaktabbrüche gehen in der Regel von der jüngeren Generation aus.“ Angehörige der „Generation Z“ zeigten sich oft verzweifelt, weil „sie sich nicht gehört und respektiert fühlen.“ Eine Rolle spiele dabei, dass die Eltern-Generation, die Babyboomer der 60er Jahre, als Spät-Folge der Kriegstraumata noch einer „gewissen Härte“ ausgesetzt waren. „Und diese Härte erträgt die Generation Z eben nicht“, sagt Rögelein, selbst ein „Boomer“.

„Teilweise massive Auseinandersetzungen“

Gerade wegen Erziehungsfragen kann es weitreichende Entzweiungen geben. Konzepte wie die „bedürfnisorientierte Erziehung“ sind der Boomer-Generation fremd, sodass es zu tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten zwischen Großeltern und Eltern kommen kann. „Da gibt es teilweise ganz massive Auseinandersetzungen“, sagt der Therapeut.

Ein häufiger Triggerpunkt ist Rögelein zufolge auch der Partner des erwachsenen Kindes, der den Eltern nicht passt. Umgekehrt kann auch der Partner oder die Partnerin an den Schwiegereltern Anstoß nehmen und den Kontakt einschränken – manchmal spielen Eifersüchte eine Rolle. Aber oft ist der Anlass, aus dem die Beziehung beendet wird, eine Belanglosigkeit.

Das könnte Sie auch interessieren

Aus Sicht der Kinder ist in dem Zusammenhang gerne vom „letzten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat“ die Rede. Hinter dem Ärger über ein deplatziertes Geschenk oder eine missglückte Bemerkung steckt häufig eine längere Beziehungs-Problematik. Dabei hat Haarmann die Erfahrung gemacht, dass ein Kontaktabbruch stets mit den Themen Nähe und Distanz zu tun hat: Entweder fühlen sich Söhne und Töchter „überliebt“, also zu sehr behütet, oder zu wenig geliebt.

Manche Kinder tauchen komplett ab

In Freundschaften kann es passieren, dass man aus Zufall nach und nach den Bezug verliert: Man zieht um, hat eine neue Telefonnummer und vergisst, sich zu melden. Familiäre Beziehungen sind dagegen wesentlich stabiler. Sie verlieren sich nicht ohne weiteres.

„Ich habe noch nie erlebt, dass ein Kontakt einfach so abgebrochen wird“, sagt die Psychologin Isabelle Überall von der Ehe-, Familien- und Lebensberatung der Erzdiözese München und Freising. „Da muss etwas vorgefallen sein.“ Kinder ziehen den Schlussstrich aus höchster Not – denn Familie bedeutet normalerweise Sicherheit und Geborgenheit. „Es ist ein natürliches Bedürfnis, eine Verbindung zu den Eltern zu haben“, betont Überall.

Wenn betroffene Eltern bei ihr in der Beratung sind, versucht sie mit ihnen, die Situation zu rekonstruieren: Wie war die Beziehung zum Kind? Wissen die Eltern, wo es sich gerade aufhält? Was könnte zum Kontaktabbruch geführt haben? „Die Hintergründe sind sehr individuell“, berichtet die Psychologin. Grundsätzlich rät sie Eltern, ein „Kontaktangebot“ zu machen.

„Auch wenn das Kind gerade nicht darauf eingehen möchte oder kann, ist das doch ein Zeichen, dass es den Eltern wichtig ist.“ Eine gute Möglichkeit sei, einen Brief zu schreiben. „Damit kommt man aus der eigenen Ohnmacht heraus und gibt dem Kind außerdem die Möglichkeit, ihn auf sich wirken zu lassen.“

Manchmal tauchen Kinder auch komplett ab – in Extremfällen wissen Eltern nicht einmal, wo sie wohnen. Gerade dann hilft laut Haarmann nichts, als loszulassen und den Fokus auf andere Dinge zu lenken. Dabei hat sie auch eine tröstliche Botschaft: „Die Mehrheit der erwachsenen Kinder, die die Tür zugeschlagen haben, öffnen sie auch wieder. Für sie ist es eine Phase der notwendigen Emanzipation. Sie lösen sich aus zu eng gewordenen Familienmustern und suchen ihre eigene Lebensform.“