Wenn es um die optimale Kinderzahl geht, werden die meisten Mütter romantisch. Nicht romantisch im heutigen Sinn, sondern: Sie spüren das geistige Erbe des 19. Jahrhunderts, der Romantik. Vor ihrem inneren Auge (interessanterweise passiert das nur wenigen Männern) tauchen Bilder einer fröhlichen Geschwisterschar auf, die nachmittagelang durch Feld, Wald und Wiese streift und am Abend umstandslos und zufrieden ins Bett sinkt. Irgendwo im weiblichen Genom muss ein rezessives Bullerbü-Gen versteckt sein, das bei aufkeimendem Kinderwunsch dominant wird.
Bei klarem Bewusstsein ist die Idylle schnell entzaubert: Vier Kinder können (oder wollen) sich die wenigsten leisten. Auto und Wohnung zu klein, Budget ebenfalls, nur schon die externe Betreuung, die Krankenkassen … Keine Chance. Ein Kompromiss muss also her, mit dem sich Mann, Frau und das Bullerbü-Gen zufriedengeben können.
Drei Kinder? Sind immer noch etwas viel. Bei dreien fehlt im entscheidenden Moment eine Hand oder ein Elternteil, der das Kleinste vor dem sicheren Tod auf der viel befahrenen Straße bewahrt.
Also zwei. Die allermeisten Paare entscheiden sich für zwei Kinder. Und nicht wenige, weil sie ihr Kind davor bewahren wollen, als Einzelkind aufzuwachsen. Denn eins kommt nicht infrage. „Das ist keine richtige Familie, das ist ein Paar mit einem Kind“ (Zitat eines aufgeklärten Zeitgenossen mit zwei Töchtern).
Einzelkinder sind eben nicht anders
Es gibt kaum jemanden, der nicht unbewusst, halbbewusst oder bei vollen Sinnen denkt, dass Einzelkinder in einer Mangellage aufwüchsen; die gängigsten Vorurteile sind, dass sie einsam, introvertiert, konfliktscheu und verwöhnt werden.
An eine Diskussionsrunde erinnere ich mich, als wär‘s gestern gewesen: Nach der Lesung aus dem Buch „Lob des Einzelkindes“ kamen die anwesenden jungen Mütter rasch auf das zu sprechen, was sie seit Monaten umtrieb: Musste nicht doch ein zweites Kind her, damit das erste gut herauskam? Sie brachten zahlreiche Pros und Contras ins Spiel, machten sich so viele Gedanken darüber, ob sich das Erste ohne Geschwister „normal“ entwickeln würde, dass die Veranstalterin am Schluss entnervt murmelte: Macht doch einfach ein Zweites.

Doch manchmal will es nicht klappen mit dem Zweiten (sogenannte sekundäre Unfruchtbarkeit). Oder die Belastung wäre zu groß (finanziell, psychisch oder physisch). Oder beim Erstgeborenen taucht eine Erbkrankheit auf, mit der man nicht gerechnet hat (leider häufiger, als man denkt). Oder die Elternbeziehung zerbricht (ist noch häufiger).
Es gibt zahlreiche Gründe, weshalb Kinder ohne Geschwister aufwachsen. Nur sehr selten ist es eine gewollte Entscheidung der Eltern – obwohl das eigentlich die beste Startrampe wäre für eine glückliche Kleinfamilie. Bei einer bewussten Entscheidung sind die Eltern zufrieden mit dem einen Kind und empfinden ihre Konstellation nicht als mangelhaft. Glücklich sein über das Kind, das ist ein guter Nährboden, auf dem es groß und stark werden kann.
Vorurteile gegenüber Einzelkindern hingegen unterwandern die Freude aneinander und säen Misstrauen. Klammert es sich an mein Bein und will nicht zum Nachbarskind, weil es keine Geschwister hat? Es wird doch nicht asozial werden?
Das wird es nicht; es wird so sozial werden, wie es seiner Persönlichkeit entspricht. Asozial, introvertiert, kann nicht teilen, nicht streiten – die verschiedenen Vorurteile gegenüber Einzelkindern halten einer genaueren Prüfung nicht stand. Das schreibe ich nicht einfach so dahin. Sondern nachdem ich mir sämtliche greifbaren wissenschaftlichen Studien angeschaut habe, die bis 2008 zu Einzelkindern erschienen sind – und das sind viele. Das Resultat ist so klar wie spektakulär: Einzelkinder entwickeln sich im Durchschnitt gleich wie Geschwisterkinder. In ihrer Persönlichkeit lassen sich keine Unterschiede feststellen.
Sie entwickeln sich gleich
Gleich wie Geschwisterkinder: Das muss man sich als besorgter Elternteil wie ein Stück Schokolade auf der Zunge zergehen lassen. Sie entwickeln sich gleich! Nicht introvertierter (sondern sogar ein bisschen extrovertierter), ohne Mühe zu teilen (sogar ein wenig teilfreudiger als Geschwisterkinder), nicht asozial (sondern mit einem ausgeprägten Sinn für Freundschaften), ein bisschen weniger streitlustig (dafür kompromissgewandt), nicht weniger schlau (sondern oft überdurchschnittlich sprachgewandt und erfolgreich in der Schule) … Die Liste der in Studien widerlegten Vorurteile gegenüber Einzelkindern ließe sich weiterführen, aber ich will Sie nicht langweilen.
Doch weshalb halten sich die Vorurteile gegenüber Einzelkindern so hartnäckig? Weil sich alle Vorurteile hartnäckig halten. Ich vergleiche es gern mit der Wirkkraft der Astrologie. Wer überzeugt ist, dass Widder undiplomatisch und unsensibel sind, während Skorpione tiefgründig und leidenschaftlich durchs Leben gehen, wird jene Bekannten, die seinen Vorstellungen entsprechen, als Beweis für die Richtigkeit seiner Zuschreibungen ansehen.
Und jene Menschen, die andere hervorstechende Eigenschaften aufweisen, als ihr Sternzeichen nahelegt, als Ausnahme ausblenden. Vorurteile sind wie Untote, sie überleben, auch wenn sie längst gestorben sein sollten.
Auf Einzelkinder bezogen: Wer zum Beispiel eine Mutter hat, die keine Geschwister hat und schlecht streiten kann, tendiert zur Annahme, das sei so, weil sie in jungen Jahren halt nicht mit Geschwistern üben konnte. Und es wird mit dieser Annahme übersehen, dass der Vater der Mutter ein ausgesprochen friedfertiger Mensch war, der auch nicht gern gestritten hat – obwohl er vier Geschwister hatte.
Auf die Eltern und das Umfeld kommt es an
Damit wären wir bei einer zentralen Erkenntnis angelangt, die sich aus den vielen Einzelkind-Studien ableiten lässt, die alle keine Unterschiede zwischen „mit und ohne Geschwister“ herausgefunden haben: Bei der Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes spielen nicht die Geschwister die Schlüsselrolle. Sondern die Eltern und das soziale Umfeld, in dem das Kind aufwächst. Geschwister sind „nice to have“, aber nicht unabdingbar, um sich gut zu entwickeln. Die Prägung durch die Eltern und das Umfeld beeinflusst die Persönlichkeitsentwicklung stärker als Geschwister.
Daraus soll nicht der Schluss gezogen werden, dass Geschwister keine Bedeutung hätten. Sie spielen durchaus eine Rolle im Familiengefüge (beziehungsweise diverse Rollen). Einfach bei der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder ist ihr Einfluss nicht nachweisbar. Da kommt es vor allem auf die Eltern, deren Gene und das Umfeld an.
Wie Eltern ticken, wie sie miteinander und mit dem Kind umgehen, ihre Art und Weise, im Leben zu stehen, prägen Kinder am nachhaltigsten. Das wiederum bedeutet nicht, dass Eltern allein zuständig wären. Die allermeisten Kinder wollen viel Zeit mit anderen Kindern verbringen – diese müssen aber nicht zwingend blutsverwandt sein. Eltern von einem Kind sind gut beraten, ihre Wohnung offener zu halten als Mehrkindfamilien (die sich oft vor allem in ihrer eigenen Blase bewegen).
Im Austausch mit Kindern und dem ganzen Dorf, geborgen und unterstützt durch Vater und/oder Mutter, so wachsen Kinder ohne Geschwister zu vollwertigen Mitgliedern der Gesellschaft heran. Und so werden sie als Erwachsene, wie wir Menschen halt sind: vielfältig und unterschiedlich und voller Überraschungen, was in uns steckt.