„Sei froh, dass du ein Einzelkind bist!“, bekam meine Freundin Kathrin oft von ihrer Mutter zu hören. „Dann musst du nie erleben, wie dein Bruder bevorzugt wird.“ Es ist erstaunlich, wie gut sich viele Erwachsene an Ungerechtigkeiten aus ihrer Kindheit erinnern.

Oft kommt dabei ein Geschwister ins Spiel, das angeblich immer das Lieblingskind der Eltern war und es in jeder Hinsicht besser hatte: Es durfte mehr, wurde seltener geschimpft, öfter gelobt und bekam stets das größte Stück Torte.

Auch Kathrins Mutter, eine hochbetagte Dame, wird lebhaft, wenn sie von den Untaten ihres Bruders berichtet. Nie hat sie ihm verziehen, dass ihm etwas in ihrem geliebten Puppenhaus zu Bruch ging, als ihn die Mutter damit spielen ließ. Dabei wusste die Mutter doch genau, dass sie den Tollpatsch nicht an das Häuschen lassen durfte!

Noch heute dient die Geschichte der Seniorin als Beleg dafür, dass ihr Bruder daheim der kleine Prinz war. War es wirklich so schlimm? Niemand weiß es genau, auch Kathrin nicht. Jedenfalls hat sich die alte Dame vorgenommen, es selbst besser zu machen: Ihren Enkeln macht sie stets exakt gleichwertige Geschenke.

Gunst ist oft ungleich verteilt

Studien zum Thema zeigen, dass in erstaunlich vielen Familien die Gunst der Eltern ungleich verteilt ist – manche Untersuchungen gehen sogar von mehr als 60 Prozent aus. Auffällig ist dabei: Zu den Tätern will niemand gehören. Spricht man mit Eltern, beteuern die in der Regel treuherzig, ihre Kinder gleich lieb zu haben. Schon der bloße Gedanke, es könnte anders sein, erscheint als unanständig.

„Kaum jemand gibt offen zu, ein Lieblingskind zu haben“, sagt auch der Schweizer Entwicklungspsychologe Jürg Frick. „Es herrscht die Ideologie, dass man Kinder genau gleich behandeln soll.“ Deshalb verschließen viele Mütter und Väter fest die Augen und geben sich der Illusion hin, die eigenen Gefühle gießkannenartig gleich auf die Kinder zu verteilen – was niemals gelingt.

Es geht schon damit los, dass das erste Kind immer etwas Besonderes ist. Nie wieder wird man von einem ersten Lächeln so verzaubert sein, nie wieder beim ersten Fieber derart in Panik geraten, nie wieder solche Unmengen von Fotos machen. Womit sollen weitere Kinder denn aufwarten, um solche Erlebnisse zu toppen? Mit jedem Kind wird die Routine größer, zur Geburt treffen kleinere Geschenke ein, für die Babymassage ist keine Zeit mehr.

Der Erziehungseifer lässt nach, die Kleinen bohren unbehelligt in der Nase und dürfen obendrein früher fernschauen, Schokolade essen und Cola trinken als die Großen. Und die Nesthäkchen kommen den Eltern besonders winzig und hilflos vor, sodass sie meinen, sie mit einer Extraportion Zuwendung und Zuckerwatte vor der bösen Welt beschützen zu müssen. Ungerecht? Je nach Perspektive schon.

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Kommt hinzu, dass jedes Kind eine einzigartige Persönlichkeit mit speziellen Eigenarten und Verhaltensweisen ist, die unbewusst etwas in den Eltern triggert. Es kann zum Beispiel sein, dass wir uns in der Impulsivität der Tochter wiedererkennen und uns ihr daher besonders nahe fühlen – vielleicht passiert aber auch das Gegenteil: dass wir das Kind unbewusst besonders kritisch betrachten, da wir diesen Zug an uns nicht mögen. Vielleicht erinnert uns die widerborstige Art auch an die eigene Schwester, mit der wir nicht zurechtkamen. Oder die wir genau deshalb bewunderten.

„Die Überzeugung der meisten Eltern, ihre Kinder im gleichen Maße zu lieben, entstammt also, wie etwa die Illusion von der gleichen Erziehung, einem Wunschdenken“, schreibt Frick in seinem Buch „Ich mag dich – du nervst mich!“. „Beziehungen sind immer viel stärker durch unbewusste Gefühle, Fantasien, Wünsche, Erfahrungen und Ziele beeinflusst als von unseren Idealen.“

Wie alle anderen wandeln sich meist auch die Eltern-Kind-Beziehungen im Lauf des Lebens. Wenn das Lieblingskind in der Pubertät auf Distanz geht, kann es sein, dass die jüngere Schwester seinen Part übernimmt. Auch dann, wenn sich eine Patchwork-Familie bildet, werden die Rollen neu vergeben. Sich einem Kind besonders nah zu fühlen, ist nichts Unmoralisches, sondern normal und menschlich. Unmenschlich wird es erst, wenn der Liebling klar bevorzugt wird.

Komplette Gerechtigkeit gibt es nicht

Unter Geschwistern wird ohnehin ständig gemessen, verglichen und gewetteifert, da sie um lebenswichtige Ressourcen konkurrieren. Die wichtigste davon ist die Liebe der Eltern, wie Nicola Schmidt in ihrem Ratgeber „Geschwister als Team“ schreibt. Kinder, die sich grundsätzlich geliebt und gut aufgehoben fühlen, können es daher besser wegstecken, wenn sie mal einen kleineren Adventskalender bekommen als der Bruder. Geschenke und andere Gegenstände haben nämlich oft deshalb eine so große Bedeutung, da sie als Symbol elterlicher Zuneigung gesehen werden.

Komplette Gerechtigkeit lässt sich jedoch nie herstellen – wie will man unterschiedlich alte Kinder zu Weihnachten gleich beschenken? Vergleicht man Zahl, Wert, Gewicht oder Volumen der Geschenke? Und wie geht man damit um, dass ein kleineres Kind bestimmte Filme nicht schauen darf, das große schon? Aber solche Kleinigkeiten spielen meistens auch keine besondere Rolle.

Wahre Kränkungen hören sich anders an. Maria, eine andere Freundin, berichtet, dass ihr älterer Bruder immer im Bett der Mutter schlafen durfte, wenn der Vater nicht da war. Eine Zeit lang hatte sie nachts so große Angst, dass auch sie sich zur Mutter legen wollte. „Sie hat mich aber einfach weggeschickt. Ich sehe mich heute noch im Türrahmen stehen mit meinem Teddybär“, sagt Maria. „Das werde ich ihr nie verzeihen.“

Die Mutter, erzählt sie, sei mit fünf Schwestern aufgewachsen und habe Jungen einfach lieber gemocht – war sich dessen aber nie bewusst. Eltern sollten also öfters einen kritischen Blick auf das Familiengefüge werfen, im Zweifelsfall mithilfe von außen.

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Das Gefühl, stets zurückgesetzt zu werden, kann nämlich Schlimmes anrichten. Viele Kinder, die sich auf Dauer von beiden Eltern benachteiligt sehen, reagieren mit Rückzug, Depression, psychosomatischen Beschwerden und Aggressivität, wie Frick schreibt. Besonders fatal wirkt sich die Benachteiligung aus, wenn sie unbegründet ist. Können Eltern erklären, warum sie sich mehr auf das Geschwister konzentrieren – etwa, weil es behindert ist, wird das von Kindern meist akzeptiert.

Vorzugsrolle kann zu Feindschaft führen

Übrigens führen meist auch die kleinen Prinzen und Prinzessinnen kein so märchenhaftes Leben wie häufig angenommen. Statt ihre Vorzugsrolle in vollen Zügen zu genießen, werden sie oft zu Opfern ihrer Geschwister, die Wut und Empörung an ihnen auslassen. Schlimmstenfalls kommt es zu jahrelangem Misstrauen oder sogar zu einer lebenslanger Feindschaft.

Spätestens beim Streit ums Erbe brechen alte Wunden wieder auf. Nicht selten kämpfen dann wohlsituierte Seniorinnen und Senioren verbissen um Kleinigkeiten, da sie nicht schon wieder den Kürzeren ziehen wollen. Eine Mediatorin erzählte Frick kürzlich, wie sie eine besonders heftige Erbauseinandersetzung zwischen Geschwistern zu schlichten versuchte. Am Ende war immer noch ein Betrag offen, um den man verzweifelt rang: Es ging um exakt zehn Cent.