Es war der 1. September 2024, zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik war gerade eine rechtsextreme Partei stärkste Kraft in einem Bundesland geworden, mit weitem Abstand vor der CDU, da traf eine Journalistin bei der ARD-Talkshow „Carmen Miosga“ einen logischen und doch erstaunlichen Befund.
Der Zeitgeist, sagte sie, sei nun mal unzweifelhaft rechts. Rechts? Wie sollte das passen zu den Gendersternchen, zur Veganismus-Welle, zu MeToo, Klimaprotesten, Postkolonialismus und vor allem: zur allgegenwärtigen linken Identitätspolitik?
Kein öffentliches Amt, von der Universitätsprofessur bis zum politischen Spitzenkandidaten, lässt sich mehr besetzen ohne kritische Prüfung von Herkunft, Hautfarbe und Geschlecht. Wirklich gerechte Verhältnisse nämlich, so lautet die Losung, lasse sich erst erreichen, wenn jede Gesellschaftsgruppe im öffentlichen Raum vertreten ist. „Sichtbarkeit“ heißt das Wort der Stunde, das „Sichtbarmachen“ von Identitäten aller Art verstehen Kultureinrichtungen, Rundfunkhäuser und Bildungsanstalten als ihren Auftrag.
Und es hat ja seinen guten Grund. Kaum zu glauben scheint, dass noch bis vor wenigen Jahren Nachwuchsschauspieler nur wenig Aussicht auf ein Engagement am Theater hatten – allein wegen ihrer Hautfarbe. Ein schwarzes Gretchen, fürchtete man, führe das Publikum auf eine falsche Fährte, als verfolge der Regisseur damit eine bestimmte Absicht.
Anpassung an die Wirklichkeit
Heute ist der Beweis erbracht: Theatergänger können zwischen der Identität einer Akteurin und der ihrer Rolle sehr wohl unterscheiden. Dass Schauspielhäuser, „Tatort“-Folgen und „Tagesschau“-Moderationen inzwischen so divers sind wie unsere Fußgängerzonen, ist eine überfällige Anpassung an die Realität.
Und doch, der Zeitgeist verfolgt unverkennbar andere Ziele. In Thüringen, wo die historische Zäsur des AfD-Wahlerfolgs zu verzeichnen war, kamen SPD, Grüne und Linkspartei zusammen auf nicht einmal mehr zehn Prozent. Das Bündnis Sarah Wagenknecht mit seinem strammen Antimigrationskurs indes mochten selbst Optimisten nicht mehr eindeutig dem linken Parteienspektrum zurechnen.
Sichtbarkeit kann aufklären. Sie kann helfen, Zusammenhänge zu verstehen, Probleme zu erkennen, Verhältnisse zu ändern. Sie kann aber noch etwas: nerven.
Wer das Sichtbarmachen bis zum Exzess betreibt, bekommt zum Lohn nicht etwa allseitigen Respekt und Harmonie. Sondern rechtsextreme Wahlerfolge. Sozialwissenschaftler berichten seit einiger Zeit von einer Verschiebung der politischen Konfliktlinien.
Wohlstand verliert an Bedeutung, kulturelle Fragen werden wichtiger. Der Wähler schaut nicht mehr nur in seinen Geldbeutel, sondern auch in den Spiegel: Wer bin ich, wie werde ich gesehen, welche Rolle soll ich in dieser Gesellschaft spielen?
Zirkus der Sichtbarkeit
Die Ergebnisse der Landtagswahlen vom vergangenen Herbst zeigen, dass immer mehr Menschen mit der ihnen zufallenden Rolle nicht einverstanden sind. In einem Zirkus der Sichtbarkeit fühlen sie sich zu Zaungästen degradiert, anwesend vor allem, um anderen Beifall zu spenden, sich selbst aber Asche aufs Haupt zu streuen. Weil sie womöglich Müller, Meier, Schulze heißen, ihre Hautfarbe so gar keine Migrationsgeschichte durchscheinen lässt oder – besonders schlimm – womöglich gar männlich sind!
Wie bei allem Wahren, Schönen und Guten kann man es auch mit der Identitätspolitik übertreiben. Wenn Repräsentanz zur Pflichtveranstaltung wird, kaum ein Fernsehfilm mehr ohne Regenbogenfamilie auskommt, Kandidatenlisten grundsätzlich erst mal nach äußeren Merkmalen durchkämmt werden, kurz gesagt die eigentlich gute Sache in Ideologie zu kippen beginnt: Dann geschieht das, was bislang noch jeder Ideologie widerfahren ist. Nämlich das allmähliche Zutagetreten der ihr eingeschriebenen Widersprüche.
Drei Lebenslügen kennzeichnen die linke Identitätspolitik. Nummer eins: die Behauptung, es gehe ihr um gleichberechtigtes „Sichtbarmachen“ aller Gruppen einer Gesellschaft.
Wie wacklig dieses Anliegen erscheint, sobald es etwa um Juden geht, zeigte sich überdeutlich im Anschluss an den Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, als deutsche Universitäten zum Schauplatz antisemitischer Hetze wurden.

Sichtbarkeit? Gilt wohl nicht für jüdische Studenten: „Viele Jüdinnen und Juden schränken ihre Sichtbarkeit zunehmend ein“, heißt es im Bericht der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias). „Sie verzichten auf das Tragen von als jüdisch erkennbaren Symbolen und sprechen auf der Straße kein Hebräisch mehr.“
Wer genau hineinhorcht in die identitätspolitischen Debatten der vergangenen Jahre, stellt fest, dass es stets nur um Sichtbarkeit ganz bestimmter Gruppen gegangen ist. Dass nur rund 29 Prozent der Spitzenpositionen in der deutschen Wirtschaft von Frauen besetzt sind, ist ein so anhaltendes wie viel diskutiertes Problem. Ähnlich viel Aufmerksamkeit erlangt allenfalls die ebenfalls vergleichsweise geringe Repräsentation von Menschen mit Migrationshintergrund: neun Prozent.
Wer interessiert sich für Ostdeutsche?
Umso mehr aber muss verwundern, wie wenig relevant eine andere Identität erscheint. Dass nämlich gerade mal vier Prozent aller Führungspositionen an Ostdeutsche gehen, gilt kaum mehr als gravierendes Problem. Sichtbarkeit? Im Osten kann man über diese hehren Forderungen nur bitter lachen. Warum linke Identitätspolitik hier so gar niemanden an die Wahlurne treibt: Man ahnt die Gründe.
Lebenslüge Nummer zwei: Identitätspolitik stärkt automatisch die Gerechtigkeit. In einer gerechten Welt mag Identität erhöhte Sichtbarkeit rechtfertigen. Auszahlen aber muss sich am Ende noch immer die erbrachte Leistung.
Wie sehr dieser Grundsatz infrage steht, zeigte sich, als im Mai 2023 zwei ehemalige Mitglieder der Jury eines renommierten Literaturpreises über die Abläufe hinter den Kulissen auspackten. Statt der literarischen Qualität, berichteten die beiden Autorinnen Juliane Liebert und Ronya Othmann, sei es vor allem um Herkunft, Nationalität, Hautfarbe der Kandidaten gegangen.
Nun ist die Frage, inwieweit sich Kunst vom Leben trennen und überhaupt einer Kategorie wie Leistung zuordnen lässt, mindestens so alt wie besagter Literaturpreis. Das Beispiel passte aber nur zu gut in eine Zeit, in der sich gleich mehrere Mitarbeiter öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten als Antisemiten mit öffentlichem Sendungsbewusstsein entpuppten und dementsprechend ihren Hut nehmen mussten. Ihr Profil passte offenbar so gut ins identitätspolitische Konzept, dass seitens der Verantwortlichen zuvor alle Kontrollmechanismen ausgesetzt hatten.
Immerhin waren diese Fehlleistungen deutlich genug, um die fälligen Proteste nicht im Keim ersticken zu können. Denn darin, dass mit Identitätspolitik auch ein offener Diskurs befördert werde, liegt die dritte Lebenslüge ihrer Anhänger.
Jedes Argument ist potenziell niederträchtig
Kritik ist schwierig geworden in einer Zeit, in der jedes noch so sachlich vorgetragene Argument als potenziell sexistisch, rassistisch oder sonstwie niederträchtig motiviert gelten kann. Eine Spitzenpolitikerin steht unter Plagiatsverdacht? Frauenfeindliche Kampagne! Ein Fußballer muss sich für sein Selfie mit einem Diktator erklären? Klarer Fall von Rassismus!
Mag auch der Diskurs sich in vielen Fällen am Ende doch durchsetzen: Die reflexhafte, automatisierte, potenziell rufschädigende Unterstellung niederer Absichten ermüdet, verletzt und schüchtert ein. Auch in solchen Erfahrungen liegt ein Grund für Radikalisierung, Sozialforscher sprechen von Reaktanz.
Ja, es ist mal eine gute Idee gewesen, öffentliche Sichtbarkeit auch an Identitäten festzumachen statt nur an Kompetenzen. Aber jetzt ist es schon lange genug, danke, es reicht. Denn Identitätspolitik klärt nicht mehr auf und bessert keine Verhältnisse. Sie nervt nur noch.