Der Herbst ist gerade erst gekommen, da fallen vom Baum der Identitätspolitik schon die ersten Früchte. Identitätspolitik, so lautet der Begriff für ein Gesellschaftskonzept, das die Frage nach persönlicher Herkunft auf eine Stufe stellt mit der Kraft eines Arguments. Grob vereinfacht: Wichtig ist nicht allein, was jemand sagt, sondern immer auch wer es sagt.
Es greift zu kurz, Anhänger dieser Idee pauschal als denkfaule Diskursverweigerer abzutun. Auch wer darauf vertraut, in einer offenen Diskursgesellschaft werde sich das stärkste Argument früher oder später schon von alleine durchsetzen, kann einer Bequemlichkeit im Denken erliegen. Weil in geschlossen Identitätsgemeinschaften manches Argument gar nicht erst zur Sprache kommt, spricht tatsächlich vieles dafür, bei der Gewichtung von Debattenbeiträgen, Besetzung von Stellen und Begründung von Entscheidungen immer auch die Frage der Identität zu berücksichtigen. Die Frage ist, mit welcher Konsequenz.
Die Früchte, die jetzt in der nachhaltig betriebenen Identitätspolitik herangereift sind, schmecken jedenfalls auffallend bitter. Identität ist nämlich keineswegs mehr nur einer von vielen gleichrangigen Faktoren. Sie entwickelt sich vielmehr zum Faktor mit ultimativem Vorfahrtsrecht, zum höchsten Trumpf im ganzen Spiel. Und immer öfter zeigt dieses Verständnis von Identitätspolitik seine problematische Seite.
Beispiel Nummer eins: Da ist die Geschichte von Nemi El-Hassan, eine Journalistin mit arabischen Wurzeln, die eine renommierte WDR-Sendung moderieren sollte. Bis sich herausstellte, dass sie vor Jahren an einer antisemitischen Demonstration teilgenommen hat und in jüngerer Zeit auf sogenannten sozialen Medien mit Sympathiebekundungen für fragwürdige Parolen aufgefallen ist.

Zu weiß, zu männlich seien die Gesichter im deutschen Fernsehen, so hatte vor Jahren ein verbreiteter Vorwurf gelautet. Doch inzwischen geraten im identitätspolitischen Bemühen um mehr Vielfalt auf dem Bildschirm Grundwerte ins Wanken. Hatte die Personalabteilung des WDR nur versäumt, mit einer einfachen Google-Recherche die inhaltliche Eignung der Kandidatin zu prüfen? Oder war das hehre Ziel der Diversität etwa wichtiger als jeder Antisemitismus-Verdacht?
Es versteht sich von selbst, dass Anhänger einer linken Identitätspolitik den Fall nun in sein Gegenteil zu kehren versuchen. Die Moderatorin habe sich ja inzwischen entschuldigt, Beiträge über Antisemitismus verfasst und sei deshalb statt Täterin vielmehr Opfer, nämlich einer beispiellosen Diffamierungskampagne. Über die gerade mal wenige Wochen alten problematischen Likes in sozialen Netzwerken
schweigen die Unterstützter. „Statt Aufklärung und Reue erleben wir, dass jegliche Kritik ganz primitiv als rechts und rassistisch abgetan wird“, bilanziert die Anwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ates.

Beispiel Nummer zwei: der Identitätsstreit zwischen zwei Dichtern. Zu den Unterzeichnern der Solidaritätsadresse an Nemi El-Hassan gehört auch ein jüdischer Lyriker namens Max Czollek. Der Publizist setzt sich für eine Gesellschaft der radikalen Vielfalt ein. Wo andere etwa von muslimischen Migranten Integration einfordern, ruft er ihnen aufmunternd zu: „Desintegriert euch!“ Der Appell kommt gut an – wenn schon ein jüdischer Autor das sagt!
Aber ist Czollek überhaupt ein jüdischer Autor? Nein, behauptet der Schriftstellerkollege Maxim Biller. Weil dessen Mutter nämlich keine Jüdin sei, handele es sich bloß um einen „Faschings- und Meinungsjuden“, der „den linken Deutschen nach dem Mund“ rede. Hoppla, da wird die Wortwahl aber ungemütlich.
Als nicht jüdischer Zaungast dieses Streits möchte man ausrufen: Schluss mit der Identitätshuberei! Lässt sich Czollek nicht auch dann kritisieren, wenn seine jüdische Identität unstrittig ist? Und umgekehrt: Wird sein Argument etwa dadurch entwertet, dass er womöglich gar kein Jude ist? Ja, haben wir denn die Streitlust voll und ganz gegen Passkontrolle und Stammbaumexegese eingetauscht?

Beispiel Nummer drei: eine verlorene Bundestagswahl. Mit der Mahnung, die kommende Regierung sei die letzte, die noch aktiv Einfluss auf die Klimakrise nehmen könne, hat die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock bis zuletzt um Wähler geworben. Es ist die These vom Eisberg und der Titanic, wer jetzt nicht grün wählt, nimmt den Untergang sehenden Auges in Kauf!
Nun verdient die gescheiterte Kanzlerkandidatin für ihre politische Courage und beachtliche Entwicklung in kürzester Zeit weit mehr Respekt, als die meisten ihr zugestehen wollen. Auch hat es in den vergangenen Monaten durchaus Momente gegeben, in denen die feministische Theorie, wonach Frauen im Kampf um die Macht noch immer benachteiligt seien, alles andere als abwegig erschien.

Und doch: In ein apokalyptisches Bild passen keine identitätspolitischen Überlegungen. Dass für die Grünen mit ihrem regierungserfahrenen (aber männlichen) Vorsitzenden an der Spitze weitaus mehr drin gewesen wäre – wer weiß, vielleicht auch das Kanzleramt –, wird nicht einmal in der Partei selbst noch ernsthaft bestritten.
Am Ende sorgte Identitätspolitik sogar dafür, dass man sie noch nicht einmal bundesweit wählen konnte: Das Gezänk um Frau oder nicht Frau an der Spitze der Grünen im Saarland beendete die dortige Landeswahlleiterin mit einem Ausschluss von der Bundestagswahl.
Das Saarland ist klein, die Auswirkung auf das Gesamtergebnis dürfte bei gerade mal 0,25 Prozentpunkten gelegen haben. Doch wenn die Titanic auf einen Eisberg zusteuert, wäre es dann nicht ratsam, alles, aber auch wirklich alles einer erfolgreichen Kursänderung unterzuordnen? Wie glaubwürdig wirkt Weltuntergangsrhetorik, wenn Raum bleibt für Identitätsproporz?
Hauptsache, alle sind gleichermaßen vertreten, für jede Gruppe einen Platz an der Sonne: Diese Haltung ist das wahre Untergangsszenario. Die Beispiele aus jüngerer Zeit geben davon einen Vorgeschmack.