Es fehlt nicht mehr viel, dann ist die größte Errungenschaft der Studentenbewegung von 1968 rückabgewickelt: die demokratische Teilhabe aller Menschen am öffentlichen Diskurs. Ohne Ansehen ihrer sozialen Herkunft, ihres Bildungsstands oder ihres Einkommens.
Herrschaftsfreier Diskurs?
Jeder sollte sich in der öffentlichen Debatte zu jedem Thema Wort melden dürfen, so lautete jenes Ideal einer toleranten Gesellschaft, das unter dem vom Philosophen Jürgen Habermas geprägten Begriff des „herrschaftsfreien Diskurses“ schon bald ganze Heerscharen von Journalisten, Politikern und schließlich auch Internetaktivisten elektrisierte.
Anders als so lange zuvor sollte nicht mehr die persönliche Identität über den Ausgang eines solchen Diskurses entscheiden, weder ein Doktor- noch Adelstitel, auch nicht eine Position als Lehrer, Pfarrer oder Bürgermeister. Nein: Einzig und allein aufs beste Argument kam es nun an. Diese scheinbare Selbstverständlichkeit steht jetzt infrage. Was zählt, ist nicht mehr das Argument. Sondern wer es hervorbringt.

Zu Beginn sah es noch so aus, als sei diese Tendenz allein am rechten Rand der Gesellschaft zu besichtigen: Anhänger von Verschwörungstheorien, die noch den stichhaltigsten Einwand dadurch zu entkräften verstanden, dass sie seinen Absender als Mitverschwörer für befangen erklärten. Medien berichten über den Klimawadel? Kein Wunder: Sind schließlich Teil der grünen Mafia! Sie berufen sich auf wissenschaftliche Studien? Die Forscher sind ja auch gekauft!
Offener Brief
Mit welcher Vehemenz sich ganz ähnliche Mechanismen inzwischen auch auf der linken, sich für liberal haltenden Seite der Gesellschaft etabliert haben, beunruhigt nun Intellektuelle auf der ganzen Welt. In einem offenen Brief warnen des Extremismus bislang unverdächtige Persönlichkeiten wie die „Harry-Potter“-Autorin Joanne K. Rowling, der Linguist Noam Chomsky und weitere prominente Autoren wie Salman Rushdie oder auch Daniel Kehlmann vor einem Klima, das den „freien Austausch von Informationen und Ideen, den Lebensnerv einer liberalen Gesellschaft“ von Tag zu Tag „mehr eingeengt“.

Die Verfasser sprechen von „Intoleranz gegenüber Andersdenkenden“, „öffentlicher Anprangerung und Ausgrenzung“ sowie der „Tendenz, komplexe politische Fragen in moralische Gewissheiten zu überführen“. Von radikalen Rechten hätten sie nichts anderes erwartet, schreiben sie, zunehmen breite sich diese „Atmosphäre von Zensur“ auch „in unserer Kultur“ aus. Anlass war die Kündigung eines Redakteurs der New York Times nach einem umstrittenen Meinungsstück.
Lust am Empören
Als wesentliche Ursache für die steigende Lust am Empören und Ausgrenzen statt Argumentieren hatte bislang der digitale Wandel gegolten. Plattformen wie Twitter sind wie geschaffen für moralische Selbstbespiegelungen: Leichter als je zuvor lässt sich durch öffentliche Herabwürdigung Andersdenkender die eigene Rechtschaffenheit zur Schau stellen. Doch die Digitalisierung allein ist nur einer von mehreren Gründen für die zunehmende Intoleranz und Aggression im öffentlichen Meinungsstreit.
Die Debatte um eine verunglückte Zeitungskolumne in der Berliner „taz„ beförderte nun eine akademische Strömung zutage, die etwa seit der Jahrtausendwende an deutschen Universitäten in Teilen der Sozial- und Kulturwissenschaften an Einfluss gewonnen hat. Es handelt sich um Theorien, die sich der Frage widmeten, warum Habermas‚ Ideal des herrschaftsfreien Diskurses bislang nicht geeignet war, Phänomene wie den Rassismus aus der Welt zu schaffen.
Die von Geisteswissenschaftlern wie dem tunesisch-französischen Soziologen Albert Memmi oder dem Briten Stuart Hall entwickelte Antwort lässt sich grob wie folgt umreißen. Weil Rassismus stets aus dem zutiefst menschlichen Wunsch entsteht, eigene Vorteile zu sichern, reichen Absichtserklärungen zu einem Diskurs auf Augenhöhe allein nicht aus. Demokratische Teilhabe kommt nicht an gegen eine Bildung von geschlossen Identitätsgemeinschaften, mit der die Bessergestellten einer Gesellschaft ihre Pfründe zu sichern verstehen.
Machtansprüche verlernen
Im Gegenteil: Jeder Versuch, solche Gemeinschaften von außen aufzulösen, scheint die Unterschiede zwischen beiden Gruppen nur umso mehr zu zementieren. Intellektuelle wie die amerikanische Literaturwissenschaftlerin Gayatri Chakravorty Spivak fordern deshalb die privilegierten Diskursteilnehmer dazu auf, ihre eigenen Machtansprüche aktiv zu „verlernen“.
Genau dieser Forderung wird nun in der Praxis Folge geleistet – auf fatale Weise. Wer sich selbst als „privilegiert“ begreift, so lautet der Appell, der soll sich aus Debatten um Diskriminierungserfahrungen heraushalten. Und zwar freiwillig, versteht sich, ohne dass ein ausdrückliches Redeverbot nötig wäre. Das Wort soll zunächst allein den Benachteiligten und Diskriminierten gehören, wie auch immer sich diese Kategorien verlässlich definieren lassen.
„Wer unterdrückt wird, hat recht“
Es war die taz selbst, die dieses Denken in schonungsloser Offenheit auf den Punkt brachte. „Meinungen sollen unterschiedlich behandelt werden, je nachdem, wer sie äußert. Wer unterdrückt wird, hat erst mal recht“, hieß es da. Alle anderen sollten sich hüten, das Gesagte zu relativieren, infragezustellen oder anzuzweifeln: „Am besten gar nichts sagen. Nur zuhören.“ Und: „Expertise, die auf eigener Erfahrung gründet, hat Vorrang.“ Wem die „Expertise“ fehlt, soll maulhalten, statt mitreden.
Wenn solch radikale Ideen Gehör finden, liegt es meist daran, dass ihre Ausgangsthesen einen wahren Kern berühren. Ein Diskurs ohne jede Binnenströmung, in dem auch die Minderheitenposition vollauf gleichberechtigt zur Geltung kommt, ist tatsächlich eine Illusion – und wurde deshalb nicht nur von Denkern wie Michel Foucault infrage gestellt, sondern auch von Habermas selbst. Auch trifft zu, dass Debatten um Gerechtigkeit und Benachteiligungen ohne Beteiligung von eigener Erfahrungsexpertise kaum sinnvolle Ergebnisse hervorbringen können.
Identität geht vor Argument
Erst das Vorrecht von Identität gegenüber dem Argument ist es, das berechtigte Kritik in ein totalitäres Diskursmodell verwandelt. Und je dürftiger sich das hinter den vermeintlichen „moralischen Gewissheiten“ stehende intellektuelle Niveau ausnimmt, desto gefährlicher wird dieses Modell. Wer etwa in den ideologisch aufgeladenen Debatten der 60er- und 70er-Jahre mitmischen wollte, war ohne rudimentäre Kenntnisse der Schriften von Marx bis Horkheimer aufgeschmissen. Heute dagegen genügt oft die leicht verdauliche Kost sich moralisch entrüstet gebender Kolumnisten.
„Wir lehnen jedes Ausspielen von Gerechtigkeit gegen Freiheit ab“, schreiben die Verfasser des Manifests gegen die Intoleranz. „Das eine ist nicht ohne das andere zu haben.“ Die Antwort aus dem Internet kam so prompt wie erwartbar: Es gehe den Autoren ja nur darum, ihre Privilegien zu verteidigen.