Wo über Identitätspolitik zu diskutieren wäre, gewinnen oft schräge Beispiele und fehlerhafte Annahmen die Oberhand. Zu den verbreiteten Missverständnissen in dieser Debatte gehört der Irrglaube, Identitätspolitik bilde einen Widerspruch zum aufklärerischen Universalismus.

Das Beharren darauf, dass Identitäten fürs gesellschaftliche Leben sehr bedeutsam sind und damit auch für die Aushandlungsprozesse, wie es zu gestalten ist, wird als Gefahr für den Zusammenhalt und die Demokratie beschrieben. Auch historisch, so wird dann gerne behauptet, sei Identitätspolitik ein gegenaufklärerisches Projekt, betrieben von Reaktionären wie Joseph de Maistre.

Es gibt keinen nur guten politischen Ansatz. Und auch ein Dunkelmann hat manchmal einen lichten Augenblick. Mit der Beobachtung, dass es nur die Menschen im Plural gibt – und nicht den Menschen an sich, lag Antidemokrat de Maistre Anfang des 19. Jahrhunderts nicht falsch, steht aber gar nicht im Gegensatz zur Aufklärung.

Joseph de Maistre (1753-1821) in einer zeitgenössischen Darstellung.
Joseph de Maistre (1753-1821) in einer zeitgenössischen Darstellung. | Bild: Wikipedia

Diese Verschiedenheit anzuerkennen, Basis aller Identitätspolitik, macht sie zum Spiegel, in dem jeder verkündete Universalismus seine Unzulänglichkeit erkennen kann. Das ist aber die Voraussetzung für jeden Demokratisierungs-Fortschritt.

Deshalb ist Identitätspolitik ja auch zugleich mit der Idee der allgemeinen Menschenrechte entstanden. Im Blick auf ihre Anfänge lässt sich erkennen, was sie heute sein kann, und warum wir sie brauchen – vielleicht sogar mehr denn je.

„Mütter, Töchter, Schwestern“

Dass 1789 in der „Déclaration des Droits de l‘Homme et du Citoyen“ mit „dem Menschen und dem Bürger“ des Titels Frauen jedenfalls nicht mitgemeint sind, wird spätestens 1791 deutlich, als die erfolgreiche Dramatikerin Olympe de Gouges, Parteigängerin der Revolution, ihre „Déclaration des Droits de la Femme“ veröffentlicht, also der Frauenrechtserklärung.

Mit dieser so ernsten wie bissigen Parodie im Namen von „Müttern, Töchtern, Schwestern“ – also drei Entwürfen weiblicher Identität – fordert Olympe de Gouges, Frauen einen Platz in der Menschheit einzuräumen.

Olympe de Gouges (1748-1793).
Olympe de Gouges (1748-1793). | Bild: Wikipedia

Denn der war ihnen verweigert worden. So hatte Artikel VI der Menschenrechtserklärung das Gesetz als „Ausdruck des allgemeinen Willens“ definiert. Und versprochen: „Alle Bürger haben das Recht, persönlich oder durch ihre Vertreter an seiner Bildung mitzuwirken“. Alle? Nein.

Die doppelt betonte Allgemeinheit, der strahlende Universalismus bedeuteten einen radikalen Ausschluss von Frauen. Ihnen blieb der Zugang zu Wahlen – und die Möglichkeit gewählt zu werden – auch vom Revolutions-Regime verwehrt. Was macht also Olympe de Gouges, um darauf hinzuweisen?

Gendersprache in der Menschenrechtserklärung

Sie gendert. Statt „alle Bürger“ schreibt sie einfach „alle Bürgerinnen und Bürger“, um der Exklusivität der Männerherrschaft ein Ende zu bereiten. Anfangs hat das bürgerliche Patriarchat lächelnd hingenommen, dass sie da mitreden wollte.

Aber irgendwann war es dann auch mal gut mit ihrem politischen Engagement, und man hat sie geköpft. Sie sei eine Virago, ein Mannsweib, eine schlimme Person gewesen, hieß es dann. Und sie habe die Einheit der Republik gefährdet.

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Wenn alle im großen Ganzen aufgehen, ist es unmöglich, auch nur zu ahnen, wem dadurch Unrecht widerfährt: „Identitäten sind der Knotenpunkt, an dem politische Strukturen ausgetragen, mobilisiert, verstärkt und manchmal auch in Frage gestellt werden“, schreibt die amerikanische Philosophin Linda Martín-Alcoff, die vielleicht profilierteste Fürsprecherin einer realistischen Identitätspolitik.

Das bedeutet: Um sich in gesellschaftliche Auseinandersetzungen einbringen zu können, ist es notwendig, die eigene Identität zu entwickeln und zu modellieren – was selbst ein politischer Akt ist. In ihrem Namen Teilhabe einzufordern, gleichen Zugang zu Wirtschaft, Kultur und Ämtern: Das ist Identitätspolitik. Gäbe es ein anderes Mittel, wie entrechtete Gruppen ihre Emanzipation betreiben könnten?

Benachteiligt von Geburt an

Das gilt für unterdrückte Geschlechter und Klassen, es gilt für benachteiligte Minderheiten, in die man oft hineingeboren wird. Gutes Beispiel in Deutschland: die Frage nach Wessis und die Ossis. Letztere sind eine Minderheit. Deren Benachteiligung von Geburt an zeigt sich im Blick auf die Erb-Statistiken der Länder. Ausgewertet hat diese der Mitteldeutsche Rundfunk.

Das Ergebnis: Im Durchschnitt erben Menschen aus der ehemaligen Bonner Republik das Neunfache von dem, was die aus den fünf neuen Ländern ohne eigenes Zutun bekommen. Baden-Württemberger stehen dabei ziemlich weit oben in der Liste mit pro Kopf 985 Euro steuerbarem geschenktem oder ererbtem Vermögen im Jahr 2022. Im ostdeutschen Mittel sind es 91 Euro gewesen.

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Zu erben oder nicht hat aber extreme Auswirkungen auf die gesamte bürgerliche Existenz. Das gemeinsame Interesse der Ostdeutschen wäre demnach eine drastische Reform des Erbrechts und seiner Besteuerung.

Die entspräche dem allgemeinen Interesse, das vom Grundgesetz umrissen wird. So gilt für alle das Grundrecht auf die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit.

Ohne Chancengleichheit bleibt dieses Versprechen aus Artikel 3 aber ein schöner Traum. Deshalb soll der Gesetzgeber auch die „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ anpeilen, wie Artikel 72 fordert.

Schlechte Identitätspolitik tut so, als wäre sie keine

Gegen die jetzige Regelung vorm Bundesverfassungsgericht geklagt hat allerdings Bayern, 1294 Euro pro Kopf, noch mehr also als Baden-Württemberg. Der Freistaat strebt die Regionalisierung des Erbschaftsteuerrechts an, angeblich um Ehe und Familie zu schützen. Schlechte Identitätspolitik lässt sich zuverlässig daran erkennen, dass sie so tut, als wäre sie keine.

Meistens gehören Menschen mehreren Gruppen zugleich an. Nur blind zu sein ist unmöglich, keine Person ist ausschließlich Badener und niemand nur Frau und sonst gar nichts.

Es ist empirisch leicht nachzuweisen, dass beispielsweise schwarze Frauen noch heute in Europa und den USA stärker benachteiligt werden als weiße. Obwohl dieses Schnittmengen-Problem auf der Hand liegt, ist es erst Mitte des 19. Jahrhundert benannt worden: Die 25 Jahre zuvor der Sklaverei entronnene Sojourner Truth hatte 1851 in einer berühmten Rede auf einem Frauenrechtskongress in Ohio für alle wahrnehmbar gemacht, dass sie diese eigene, doppelt-diskriminierte Identität behaupten muss, um auch innerhalb einer feministischen Bewegung ihre Interessen publik zu machen.

Sojourner Truth, fotografiert 1870.
Sojourner Truth, fotografiert 1870. | Bild: Wikipedia

Die rhetorische Frage „Ain‘t I A Woman?“, also „Wäre ich etwa keine Frau?“, verdeutlicht die Kernbotschaft ihrer Rede – nämlich den Anspruch, als schwarze Frau mit anderen Frauen für die Gleichberechtigung zu kämpfen. Das ist Identitätspolitik pur – die zu einer umfassenderen, also universelleren Solidarität aufruft.

Ein Manuskript gibt es nicht, die Textgestalt ist ungewiss. Als gewiss gelten kann allerdings, dass Kongress-Organisatorin Joslyn Gage vorab massiv bedrängt worden war: „Immer wieder kamen Ängstliche zu mir“, schildert sie in ihren Erinnerungen, „und sagten: ‚Lassen Sie sie nicht sprechen, Mrs. Gage, es wird uns ruinieren. Jede Zeitung im Land wird unsere Sache mit der Abschaffung der Sklaverei und den Niggern in einen Topf werfen‘.“

Nur ein Schritt zur vollständigen Auslöschung

Das herabsetzende Wort des Originals erinnert daran: Der historische Kontext ist brutaler rassistisch als unsere Gegenwart. Um zu verhindern, dass durch den Auftritt der Minderheit in den eigenen Reihen das eigene Anliegen Schaden nimmt, soll also verhindert werden, dass die Gruppe der Unterdrückten ins Licht des Seins drängt.

Truth hätte unsichtbar gemacht werden sollen, ihrer Identität und damit des nach Hannah Arendt einzig wirklich grundlegenden Rechts beraubt, nämlich des Rechts, Rechte zu haben. In diesem Sinne lässt sich in der verbreiteten Verteufelung der Identitätspolitik ein totalitärer Impuls erkennen.

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Hinter dem muss keine böse Absicht stecken. Es genügt, die Gruppe, die jetzt ihre Berücksichtigung einfordert, anstrengend zu finden. Um legitime Forderungen nach Teilhabe zurückzudrängen, reicht der verständliche Wunsch, endlich mal in Ruhe gelassen zu werden mit der Zumutung Demokratie. Die plurale Gesellschaft erfordert nämlich, sich ständig mit den vielen Rechte- und Rechthabern auseinanderzusetzen, den Anderen.

In einer homogenen, gleichgeschalteten Gesellschaft gibt es so etwas nicht. In der gibt es überhaupt keine Politik: Indem er sie vereinzelt, ihnen die Möglichkeit nimmt, sich in eine Gemeinschaft mit anderen zu begeben, raubt der Herrschaftsapparat des Totalitarismus laut Arendt den Menschen die Fähigkeit, „die eigene, von den anderen nicht mehr bestätigte Identität mit sich selbst aufrechtzuerhalten“.

Sie sind egal geworden. Von dort aus zur vollständigen Auslöschung ist es nur ein Schritt.