Mit Gründung der Universität, so lautet ein verbreiteter Mythos, kam 1966 das progressive Denken nach Konstanz. Mitbestimmung, Gleichberechtigung, Emanzipation: Endlich bekamen die konservativen Hinterwäldler am Bodensee mal den liberalen Wind der Metropolen zu spüren!
Wer die Archive erforscht, erkennt leicht, dass an dieser Legende etwas nicht stimmen kann. Wenn schon zu Beginn der 60er-Jahre Blues-Größen wie Muddy Waters und Willie Dixon an den Bodensee kamen, vom CDU-Oberbürgermeister herzlich empfangen und mit Gastgeschenken bedacht, passt das kaum zu einer rückständigen Gesellschaft. Progressive Theaterregisseure wie Heinz Hilpert, die schon 1948 Max Frisch inszenieren? Manche Großstadt kann davon nur träumen. Und dann war da noch „Lady“: eine Frauenzeitschrift, ins Leben gerufen von der jungen Konstanzerin Marie Dietrich.
Jana Revedin hat mit ihren biografischen Romanen über außergewöhnliche Frauen der Kunst- und Kulturgeschichte Bestseller-Status erlangt. Das gilt insbesondere für „Jeder hier nennt mich Frau Bauhaus“ über Ise Frank, Ehefrau von Walter Gropius und Wegbereiterin der Bauhaus-Idee. In ihrem neuen Buch „Der Frühling ist in den Bäumen“ (Aufbau-Verlag) widmet sie sich nun einer Frauengestalt aus ihrem engsten Umfeld. Denn Marie Dietrich, jene Chefredakteurin des Magazins „Lady“, war ihre Mutter.
Ein einziger Tag, ein einziger Ort: Alle Facetten der von erlittenen Traumata, patriarchalem Denken und Autoritätshörigkeit gezeichneten Nachkriegszeit sollen in diesem 1. Mai 1953 und dem Konstanzer Inselhotel ihren Kulminationspunkt finden. Für Marie, genannt Renina, Dietrich ist es ein Tag, der mit einer Vergewaltigung beginnt und mit einem brutalen Schlag ins Gesicht endet. An beiden Gewaltakten trägt ihr Ehemann Schuld: ein Atomphysiker, der sich wegen eines Kongresses in die provinzielle Heimat seiner Angetrauten bequemt.
Doch zwischen dieser männlichen Gewalt als Klammer erfährt Renina weibliche Inspiration, die sie in ihren – für diese Zeit ungeheuerlichen – Scheidungsplänen bestärkt. Im Tagungshotel der Herren Wissenschaftler hat sich nämlich auch eine kunstsinnige Dame aus dem Umkreis der Bauhausbewegung einquartiert.

Erica Taut, Witwe des bedeutenden Architekten Bruno Taut, musste bereits selbst leidvolle Erfahrung mit gesellschaftlichen Konventionen sammeln: Weil die erste Ehefrau ihres Mannes eine Eheauflösung verweigerte, konnte sie ihn nicht heiraten. Eine Witwe war sie also im Herzen, nicht aber vor dem Gesetz.
Bald zeigt sich, dass zwischen den Frauen eine tiefere Verbindung liegt, als sie ahnen: Erica kennt Reninas Eltern nämlich noch aus Weimarer Bauhaus-Zeiten. Am Bodenseeufer kommt es bald zum unverhofften Wiedersehen. Und in dieser Gesellschaft von starken Frauen, Freunden und Eltern sieht sich die junge Journalistin ermutigt, sich endgültig aus der Ehehölle zu befreien, eine eigene Karriere zu starten.

Das alles ist nicht frei von Schwächen, vor allem die ambitionierte Verdichtung von Ort und Zeit erweist sich als Achillesferse des Romans: Zu nah liegen Sexualverbrechen und gesellige Konversation beieinander, angesichts der monströsen Dimension der erlittenen Gewalt gelingt Reninas Selbstermächtigung irritierend souverän. Auch wünschte man den Charakteren bisweilen schärfere Konturen, das gilt vor allem für die wörtliche Rede.
Bemerkenswert aber ist, wie die Autorin diese Geschichte in ihren Schauplatz einbettet: Konstanz kommt erstaunlich gut weg – und das aus guten Gründen. Revedin zeigt nämlich eine Stadt, die schon lange vor der Universitätsgründung mit der großen, weiten Welt in Berührung gekommen ist. Viele Künstler und Intellektuelle sind hier ins Exil ausgereist. Andere haben sich wegen der Fluchtmöglichkeit nahe der Schweizer Grenze niedergelassen.
Und so offenbaren in „Der Frühling ist in den Bäumen“ Persönlichkeiten wie der Inselhotel-Chef Voss oder der SÜDKURIER-Verleger Johannes Weyl ihre liberale Gesinnung. Im Inselhotel treten schwarze Jazz-Musiker auf, und die Zeitung verschafft Lesern Gehör, die sich für Frauenrechte einsetzen. Dass es diese Leser offenbar in reicher Zahl gibt, spricht Bände.
Der Fortschritt war also bereits in den 50er-Jahren in Konstanz zu Hause, offenbar auch im Inselhotel. Doch wohnte er nicht etwa in den feinen Suiten für Gäste aus den Metropolen. Sondern mitten in der ganz normalen Bevölkerung.
Jana Revedins Roman „Der Frühling ist in den Bäumen“ (250 Seiten, 22 Euro) ist im Aufbau-Verlag erschienen. Am 5. Oktober 2023 stellt die Autorin ihr Buch im Steigenberger-Inselhotel in Konstanz vor. Beginn ist um 19.30 Uhr, der Eintritt ist frei. Eine Anmeldung ist erforderlich per E-Mail an http://veranstaltungen@aufbau-verlage.de.