Die Vergangenheit will noch immer nicht vergehen: 40 Jahre nach dem Krieg löste dieser Umstand einen handfesten Streit unter Historikern aus. Und noch mal 40 Jahre nach diesem Streit schreibt eine Autorin über diese Unvergänglichkeit ein Theaterstück. Die Naziverbrechen, so lautet ihre These, wirken in unserem Bewusstsein nach als nie wirklich aufgearbeitetes Trauma. Wir Deutschen seien nicht in der Lage, an den Schmerzpunkten unserer Geschichte zu rühren.
Lange spricht fast alles gegen diesen Premierenabend am Theater Konstanz. Das Thema: Ist das nicht längst ausdiskutiert? Der Stücktitel „No Shame in Hope (Eine Jogginghose ist ja kein Schicksal)“: Klingt das nicht unpassend albern? Auf der Bühne dann diese Frauen aus der Psychoklinik: Was schwätzen sie bloß für zusammenhangloses Zeug?
Einen heruntergekommenen Imbissstand hat Autorin Svealena Kutschke für sie vorgesehen. Drei frisch entlassene Patientinnen warten hier auf den Bus zurück ins Leben. Vermeintlich aufgemöbelt in der Seele, aber gleich gelandet in der tristen Wirklichkeit mit Dosenbier und Currywurst.
Es gilt das gequasselte Wort
In der Regie von Simone Geyer wird der Tresen zwar zur Drehbühne, und statt Pommes gibt es nur eine dicke, überdimensionierte Kartoffel zu sehen. Die Trostlosigkeit vermittelt sich aber im gesprochenen, vielmehr gequasselten Wort.
Ungemein romantisch findet Luca (Sylvana Schneider) den Ort: Kommt es hier bei einer Verabredung zum ersten Kuss, klappt es auch sonst im Leben! Linn (Sarah Siri Lee König) meint, man fühle sich in solchen Imbissbaracken „immer wie um drei Uhr morgens“. Und während die Inhaberin selbst (Anna Eger) beim Ausblick mal von imaginären Bergen schwärmt und mal vom Meer, korrigiert Carla (Jana Alexia Rödiger) kühl: „Die ganzen Hochhäuser und keine Menschen!“

Mal geht es um Therapieerlebnisse (“Du hast ja nun wirklich nichts von dir preisgegeben“), mal um Küchenpsychologie (“Die Abwesenheit von Depressionen ist ja nicht Glück!“) und immer wieder um den öffentlichen Nahverkehr. Wann kommt er denn endlich, der Bus?
Es dauert, bis sich in diesem von Banalitäten durchsetzten Textgewebe eine Tiefenstruktur zu erkennen gibt. Der Deutsche, plaudert Imbissbetreiberin aus ihrer Kundenerfahrung heraus, frage niemals nach dem Schmerz einer Person. Er frage immer nur: „Was kann ich denn dafür?“ Eigentlich, wirft Luca ein, brauche der Mensch im Industriezeitalter ja gar keinen Körper mehr, nur noch das Gehirn. „Wenn du einen starken Körper willst, hast du ja gleich Riefenstahl im Kopf!“ Und als die Verkäuferin auf das Thema Vergangenheit zu sprechen kommt: „Ich hab‘ so viel Fehlermanagement betrieben! Jetzt sollen wir uns auch noch mit Nazis beschäftigen?“

Es ist keine Geschichte, die Kutschke hier erzählt, sondern ein Collagenteppich aus sich immer wieder neu zusammenfügenden Versatzstücken. Plötzlich passt das „Was kann ich denn dafür?“ frappierend genau zur Nazivergangenheit, und das Warten auf den Bus mutiert zur Metapher für eine kollektive Sehnsucht nach Erlösung. Hat man das Prinzip einmal verstanden, also den angestrengten Nachvollzug einzelner Sprechakte aufgegeben und stattdessen die Textfläche auf sich wirken lassen wie ein Stück Musik: Dann schälen sich daraus geistige Hologramme, verborgene Wunden erhalten Kontur.
Fraktur
Die körperlose, kapitalistische Wirtschaftsordnung erweist sich als Scheintherapie. Der Mensch darf sich darin als technischer Apparat fühlen, der nur mal ein bisschen Fehlermanagement benötigt. Gruppentherapeutische Gesprächsrunden: nicht viel mehr als notdürftige Reparaturmaßnahmen zur Wiederherstellung unserer Funktionstüchtigkeit.

Nur kurz droht das Stück mit Belehrungstheater zu enttäuschen. Als nämlich wie durch bösen Spuk immer mehr Denunziationsschreiben aus den 30er-Jahren in den Imbiss flattern, mahnt die Betreiberin selbstgefällig: Wenn jeder Deutsche nur seinen Privat-Nazi aufarbeiten würde, seinen Großvater oder Urgroßonkel, dann wären wir einen Schritt weiter. Doch Kutschkes Text fängt auch das auf. „Du!“, rufen die drei Kundinnen im Chor: „Zahl du erst mal anständige Gehälter an die Leute, die deine Küken schreddern!“
Dass es ein beklemmender, ja überwältigender Totentanz auf den Ruinen unserer Geschichte wird, liegt an einer Regie, die keine Bühneneffekte scheut. Aber natürlich auch an Schauspielern (das Quintett vervollständigt Jonas Pätzold als fremder Passant mit intermezzohaft eingestreuten Telefongesprächen), die den musikalischen Gehalt dieses Textes voll erfassen.
Dessen wichtigste Botschaft hämmern sie uns gleich mehrfach ein. Nämlich, dass „nichts, was du jemals getan hast, wirklich verschwindet“. Aber: „Du selbst verschwindest irgendwann schon!“
Kommende Vorstellungen: am 24., 25. und 28. Januar. Weitere Informationen: www.theaterkonstanz.de