Es ist schwer, mit Menschen zu leben, weil Schweigen so schwer ist. Schwer fällt es, seit den Menschen der Urgrund ihrer Existenz abhanden kam. Seit sie glauben, sich mit Geschwätzigkeit ablenken zu müssen von ihrer Sorge vor einem Ende ohne Jenseits, ohne Sinn, ohne Gott.
Vielleicht lässt sich das Schweigen ja bei jenem Mann lernen, der diesen Tod Gottes als erster diagnostiziert hat: Friedrich Nietzsche, dessen rätselhafte Dichtung „Also sprach Zarathustra“ am Samstag im Zürcher Schiffbau Premiere hatte. Es geht darin um einen Einsiedler, der sich nach Jahrzehnten in den Bergen wieder zu den Menschen wagt. Er will mit ihnen seine Erkenntnisse teilen, predigen, was ihm über das Leben und seine Bedeutung bewusst geworden ist. Reden, statt schwätzen. Doch bei diesem Versuch muss er immer wieder feststellen: Seine eigenen Begriffe sind nicht zwingend die seines Publikums. Wenn es um Unaussprechliches geht, gebiert Sprache nur noch Missverständnisse.
Die Ironie der Geschichte liegt darin, dass Nietzsche genau das selbst widerfahren ist. Zarathustras Rede vom Übermenschen: Bereitete sie nicht der Rassenideologie den Boden? Und war der „Wille zur Macht“ nicht die Anleitung zur Nazi-Tyrannei?
In der weitläufigen Industriehalle erstreckt sich die Bühne über die volle Breite. Eine katastrophale Voraussetzung für Theater eigentlich: Das Personal wirkt verloren, jeder Auf- und Abgang ist mit einer wahren Weltreise verbunden. Genau darin aber liegt die Absicht. Denn wo Gott weichen muss, wird es eben leer und ungemütlich. Es wird viel gerannt an diesem Abend und viel geschrien, um diesen Raum vor der weiß nüchternen Wand irgendwie mit Leben zu füllen.
Zunächst aber taucht eine nackte weibliche Gestalt auf, schlangenartig tänzelt sie über die Bühne, erregt atmend, keuchend. Eine Geisterseherin? Eine Priesterin? „Alles Tiefe soll hinauf“, ruft sie: „Dies heißt mir Erkenntnis!“ Ja, da gibt es sich doch schon zu erkennen, das so heiß umstrittene Konzept vom Übermenschen. Hinauf- statt nur fortpflanzen soll er sich, seine gewonnene Freiheit nutzen, um selbst und aktiv an einer höheren Form des Seins zu arbeiten – wenn schon kein Gott mehr da ist, der ihm diese Mühsal abnimmt.
Zarathustra
Warum, das erklärt uns eine resolute Frau in Glitzersakko. Diese Gasse hier, ruft sie und zeigt auf die Bühne, währe eine Ewigkeit. „Und jene lange Gasse hinaus“ – sie stößt jetzt ein Element in der weißen Wand auf und dahinter sogar noch ein Tor in der Industriehalle, sodass wir geradewegs auf die Straße blicken – „ist eine andere Ewigkeit“. Wenn es stimmt, dass der Mensch in diese Unendlichkeit geworfen ist, so müsse das doch zweierlei bedeuten. Erstens: alles ist schon einmal dagewesen. Zweitens: Alles kommt auch einmal wieder, also auch jeder einzelne Mensch.
Mehr Collage statt Erzählung
Nietzsche-Zitate erklingen allenthalben (auch das von den Menschen und dem Schweigen), jedoch alle durcheinander, mehr als sinnliche Collage denn sinnhafte Erzählung. Hier beschwört jemand die Unendlichkeit, dort klagt ein anderer über die Vergänglichkeit. Ein Lebensmüder beschreibt zu trister Klavierbegleitung (Musik: Samuel Wiese) die Aussichtslosigkeit seiner Sinnsuche. Wie soll er sich hinaufpflanzen, wenn er ja doch nur ständig gesellschaftliche Erwartungen bedienen muss? „Gesehen werde ich nur in Rollen, die ich für andere spiele, erfülle oder erfinde!“
Per Video sehen wir die Gesichter dieser Suchenden, Zweifelnden groß auf die Wand projiziert, wie dieser ästhetische Gottesdienst ohne Gott überhaupt viel mit medialen Effekten arbeitet: düstere Sounds, grelle Lichter, Bühnennebel. Viereinhalb Stunden dauert das Spektakel, das Publikum ist dabei von seiner Anwesenheitspflicht befreit, darf kommen und gehen nach Lust und Laune. Wer lange genug aushält, bekommt mit, wie sich die neun Protagonisten in künstlerische Tätigkeit stürzen. Gemeinsam bemalen sie eine große Leinwand, in der auf den Boden verschütteten Farbe suhlt sich die nackte Gestalt vom Anfang des Abends.

Wie sie sich mit lasziv tänzerischen Bewegungen erhebt, über und über von der braunen Lasur überzogen, ist ästhetisch durchaus beeindruckend: als wäre eine Bronzeskulptur zum Leben erwacht. Doch das Schöne täuscht über die Unschärfe dieses Abends nicht hinweg. Zwar blitzen immer wieder interessante Gedanken auf, Assoziationen, Ahnungen. Doch das ist nichts weiter als die Wirkung eines starken Textes. Was Regisseur Sebastian Hartmann aber uns mit diesem genau mitteilen will, bleibt zu diffus.
„Alles redet, niemand weiß mehr zu verstehen“: Auch das ist so ein Zarathustra-Zitat. Es trifft das Publikumserlebnis dieses Abends präziser als beabsichtigt sein dürfte.
Kommende Vorstellungen: Heute sowie am 7. und 9. Mai. Weitere Informationen: www.schauspielhaus.ch