Herr Honneth, allgemein wird gesagt, wir im Westen leben in Freiheit. Ihr neuestes Buch heißt „Die Armut unserer Freiheit“. Was meinen Sie, wenn Sie behaupten, dass wir unter einer Armut an Freiheit leben?
In den kapitalistisch geprägten Ländern des Westens operieren wir mit einer recht armseligen Vorstellung von Freiheit. Unsere Idee von Freiheit ist geprägt von den Philosophen Thomas Hobbes und Immanuel Kant. Nach Hobbes bin ich dann frei, wenn ich tun und lassen kann, was ich will, solange ich dabei die gleiche Freiheit aller anderen nicht verletze. Bei Kant bin ich im Unterschied zu Hobbes erst dann frei, wenn ich meine Wünsche und mein Handeln an moralischen Prinzipien ausrichte, die aus der Sicht aller anderen Menschen Zustimmung finden könnten. Die Idee sozialer Freiheit wird demgegenüber in unserem moralischen Selbstverständnis weiterhin sehr unterschätzt.
Aber wie unterscheidet sich Ihre Idee sozialer Freiheit davon?
Der Begriff der sozialen Freiheit geht über die individualistische Vorstellung hinaus, weil er die anderen nicht nur als Zustimmende oder Ablehnende unserer je individuellen Absichten versteht, sondern als Partner in einer wechselseitigen Beziehung, die die Realisierung unserer Absichten überhaupt erst ermöglicht. Nehmen Sie die Freundschaft oder die Liebe.
In gelingenden Freundschaften ergänzen sich meine Wünsche mit den Wünschen meines Partners. Es sind nicht nur meine Absichten, sondern unsere, die wir gemeinsam zu verwirklichen suchen. Diese gesteigerte Form der Freiheit nenne ich soziale Freiheit.
Freiheit im Miteinander und Füreinander wie in der Freundschaft oder der Liebe, das können viele noch verstehen. Aber eine moderne Gesellschaft lässt sich doch nicht auf Liebe oder Freundschaft aufbauen.
Ja, das ist richtig. Aber die soziale Freiheit spielt auch für unser Gemeinwesen eine wichtige, aber eben vollkommen unterschätzte Rolle. Nehmen Sie die demokratische Willensbildung: Die herkömmliche Vorstellung davon, nach der diese darin besteht, dass wir alle paar Jahre unser individuelles Wahlrecht ausüben, ist doch recht armselig. Die demokratische Willensbildung verlangt wesentlich mehr, dass wir nämlich uns beständig miteinander über das Wohin und Wozu unseres Gemeinwesen austauschen.
Nehmen Sie „Fridays For Future“: Die Klimabewegung hat überall in der Gesellschaft Diskussionen darüber angestoßen, wie wir die Klimakatastrophe bewältigen können – dieser kommunikative Austausch scheint mir der Inbegriff von Demokratie, und nicht der individuelle Gang zur Wahlurne.
Das Thema Klima ist aufschlussreich, da stehen sich mitunter individuelle und soziale Freiheiten gegenüber. Plakativ gesagt: Die Vorstellung individueller Freiheit, der Kauf einen SUV ist Konsumenten-Entscheidung, steht im Konflikt mit der Vorstellung, dass wir durch einen demokratischen Beschluss das Fahren von SUVs verbieten. Wie gehen wir damit um?
Wir machen uns nicht hinreichend klar, dass das Zusammenleben in einem demokratischen Gemeinwesen immer die Einschränkung bestimmter individueller Freiheiten verlangt. Bei der Freundschaft oder in einer Liebesbeziehung ist der gelegentliche Verzicht auf die eigene Freiheit weniger auffällig, er ist hier nahezu selbstverständlich. Aber auch in einem demokratischen Gemeinwesen unternehmen wir solche Verzichtleistungen ständig, auch hier gelten sie nach einer Zeit der Eingewöhnung wie selbstverständlich.
Aufgrund demokratischer Beschlüsse in der Vergangenheit zum Beispiel ist uns die Mülltrennung inzwischen zur zweiten Natur geworden. Und im Rahmen einer demokratischen Willensbildung könnten wir natürlich auch beschließen, dass wir gemeinsam bestimmte Formen klimaschädlichen Konsums wie etwa den Besitz eines SUV einschränken.
Ihr Begriff sozialer Freiheit erinnert an den Begriff der Solidarität. Mit der Klimakrise stellt sich natürlich die Frage danach, wer zum solidarischen Gemeinwesen gehört und wer nicht, noch einmal drängender. Ist Solidarität grenzenlos?
Wir sehen uns heute mit großer Selbstverständlichkeit als Mitglieder verschiedener Gemeinschaften: unserer Familie, unserer Stadt, der Bundesrepublik, Europas und der Welt. Und es wird klar, dass sich viele der Probleme, vor denen wir heute stehen, die Klimakatastrophe oder die Flüchtlingskrise etwa, nicht mehr innerhalb von Nationalstaaten lösen lassen.
Langfristig werden wir nicht umhin kommen, wesentlich komplexere und weiter gefasste Formen sozialer Freiheit und Solidarität zu bilden. Ich glaube, dieser Prozess ist ziemlich unaufhaltbar: Die neonationalistischen Bestrebungen und rassistischen Bewegungen, die wir überall sehen, sind da nur Bremsversuche, die längerfristig zum Scheitern verurteilt sein werden.
Ihr Optimismus ist bemerkenswert: Sie waren ja Direktor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und stehen damit in der Nachfolge von Intellektuellen, die einmal vor dem deutschen Faschismus fliehen mussten.
Ja, und wenn ich mir heute neofaschistische Figuren wie Donald Trump in den USA oder Jair Bolsonaro in Brasilien anschaue, dann packt mich durchaus auch die Angst. Aber mein Optimismus nährt sich aus dem Bewusstsein, dass die enormen Herausforderungen, vor denen wir weltweit stehen, wie etwa die Klimakrise, internationale Lösungen erzwingen. Ich will nicht von der List der Vernunft sprechen, aber der normative Druck der Umstände wird uns zum Lernen zwingen.

Herr Honneth, wie hat eigentlich die Corona-Krise Ihre Vorstellung von sozialer Freiheit und Solidarität beeinflusst?
Die längerfristigen Folgen sind noch nicht absehbar. Aber ich fand zunächst erfreulich, dass viele Menschen aus Einsicht in die leibliche Fragilität unseres sozialen Zusammenlebens bereit waren, auf individuelle Freiheiten zu verzichten. Menschen haben natürlich das Recht zu demokratischem Protest gegen die entsprechenden Maßnahmen, selbstverständlich auch die Corona-Leugner. Aber ich persönlich glaube nicht, dass wir eine wertvolle Freiheit verlieren, wenn wir angehalten werden, nur mit einer Gesichtsmaske einen Supermarkt zu betreten. Ich hoffe, Corona eröffnet eine Debatte darüber, welche unserer Freiheiten unser Gemeinwesen zusammenhalten und welche ihm Schaden zufügen.