Als Donald Trump sich anschickte, per Twitter das Weiße Haus zu erobern, meldete auch ich mich bei dem Onlinedienst an: Ich wollte lernen, wie Öffentlichkeit über diesen Kanal funktioniert. Vor allem aber wollte ich erfahren, wie sich das politische Kommunizieren über Kurznachrichten von bis zu 280 Zeichen auf unsere Gesellschaft auswirkt.

Heute, zum Ende der ersten Amtszeit von US-Präsident Trump, habe ich Twitter wieder verlassen. Es lässt sich kein Ort denken, an dem der politische Diskurs perfider, gefährlicher, widerlicher verläuft. Wer sich vor Verbitterung und Radikalisierung bewahren will, sollte die Plattform allenfalls für Gespräche über Haustiere oder Kuchenrezepte nutzen, und zwar aus folgenden Gründen.
- Asymmetrische Debatte: Sogenannte soziale Medien wie Twitter sind angetreten, die Welt zu verbessern. Es galt, den demokratischen Diskurs zu stärken und „Menschen zusammenzubringen“ (Facebook-Gründer Mark Zuckerberg). Auf Facebook funktioniert das insoweit, als Kontaktaufnahmen im Regelfall auf gegenseitigem Einverständnis beruhen. Auf Twitter hingegen lernte ich früh: Demokratische Debattenräume interessieren niemanden. Das Medium ist vor allem ein Propagandainstrument.
Donald Trump etwa erreicht mit seinen täglich 30 Tweets ingesamt 85,7 Millionen Menschen. Er selbst dagegen liest lediglich die Beiträge von 50 anderen Personen. Twitter bringt die Menschen also zwar mit Trump zusammen, nicht aber Trump mit den Menschen. Dieses Missverhältnis zwischen „Folgen“ einerseits und „Gefolgtwerden“ andererseits gilt auf Twitter als eine Art Gütesiegel: Wer sich vor Followern kaum retten kann, obgleich er selbst kaum Interesse für andere zeigt, muss eine wichtige Persönlichkeit sein!
- Statements statt Argumente: In maximal 280 Zeichen lässt sich nicht ernsthaft argumentieren. Zwar erlaubt Twitter inzwischen, mehrere Tweets miteinander zu verknüpfen. Das aber ist mühsam und widerspricht der Wahrnehmungslogik dieses Mediums: Will ich gehört werden, muss ich radikal verkürzen.
Was aber geschieht, wenn Argumente radikal verkürzt werden? Richtig: Sie werden zu reinen Meinungsbekundungen, die sich zudem hervorragend missverstehen lassen – absichtlich wie unabsichtlich. So entsteht statt einer Debatte das große Meinen und Empören.
- Machtspiele: Glaubst du als kleines Licht mit wenigen Followern im Gepäck den Versprechungen der Internetindustrie und stürzt dich in den demokratischen Diskurs, so kannst du dein blaues Wunder erleben. Da beschließt ein mächtiger Twitterer mit mehreren zehntausend Anhängern, deinen Beitrag unter Hinzufügung hämischer, fehlinterpretierender Kommentare dem Publikum zum Fraß vorzuwerfen. Selbst schuld? Musst du halt genauer und höflicher formulieren?
Nun ja: Tatsächlich bedarf es wenig, um selbst sachliche Einwände und harmlose Fragen als Musterbeispiel von rechts-, links- oder sonstwie-radikaler Gesinnung erscheinen zu lassen. Auf diese Weise lässt sich ein Internetmob mobilisieren, der in der Lage ist, dich für mehrere Nächte um den Schlaf zu bringen. Glaube bloß nicht, das passiere dir nur bei üblichen Verdächtigen! Auf Twitter offenbart auch der hoch angesehene Wissenschaftler mit Professortentitel ungeahnte Abgründe.
- Narzissmus: Dass selbst Professoren die Nerven verlieren, liegt in einer tiefen Sehnsucht des Menschen. In der Kunst treibt sie ihn dazu, seine schönsten Seiten zu zeigen. Auf Twitter sind es die hässlichsten. Gemeint ist die Sehnsucht nach Liebe.
Zwar unterscheiden sich die sogenannten Timelines (also die Übersicht über die aktuellen Beiträge) sozialer Medien je nach Auswahl der individuellen Kontakte. Wenn ich aber meine eigene Erfahrung auch nur ansatzweise als exemplarisch annehmen darf, so rufen drei von vier Tweets nach Anerkennung, Mitleid oder gar beidem zusammen. Das große Meinen und Empören: Es dient zuallererst der Befriedigung von Eitelkeiten.
- Im Gefängnis: So rar die Momente der Freude oder des Erkenntnisgewinns auch gesät sind – du verbringst auf dieser Plattform jede Menge Zeit. Denn bei Twitter kann dich jederzeit irgendwer öffentlich zitieren oder kommentieren. Und weil jeder deiner auf Kürze getrimmten Tweets zum absichtlichen oder unabsichtlichen Missverstehen einlädt, bist du gut beraten, regelmäßig nach dem Rechten zu schauen.
In deinen analogen Briefkasten blickst du einmal täglich. Der digitale dagegen will rund um die Uhr kontrolliert werden. Man könnte den Account natürlich löschen. Aber ist das wirklich eine gute Idee – gerade jetzt, wo du endlich soundsoviele Follower hast? Wer weiß, wozu dieses Netzwerk noch mal gut ist?
- Du wirst, was du liest: Die entsetzlichste Erfahrung in meinen viereinhalb Jahren auf Twitter waren nicht Narzissmus und Verkürzung, nicht das bewusste Fehlinterpretieren und nicht Aufhetzen von Followergruppen. Der Anlass, das Experiment zu beenden, war die Erkenntnis, selbst zum aktiven Teil des Systems zu werden.
Es fängt an mit der Einsicht, dass ich Lebenszeit mit der Lektüre von Meinungsbeiträgen verbrachte, die in ihrer ewig gleichförmigen Wiederholung kein anderes Ziel verfolgten, als Beifall zu heischen. Es setzt sich fort in der Selbstbeobachtung beim Bestätigen und Weiterleiten, ja sogar dem Selbstformulieren von empörten Kommentaren, die im Kern nichts anderes waren als dümmliche Fehlinterpretationen.
Und es endet mit dem Entschluss zu einer ehrlichen Überprüfung der eigenen Beiträge: Wenn Twitter wirklich den Diskurs stärken soll, so müssten sich in meinem Archiv ja dessen Haupteigenschaften finden lassen – das Überzeugen und das Überzeugtwerden. Ergebnis: keine Spur davon.