Hat sich in Sachen Sexualaufklärung eigentlich irgendetwas zum Guten entwickelt? Ein Klassiker wie Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ gibt Anlass zum Zweifeln: Vor 130 Jahren galt er als unaufführbar, weil Themen wie Vergewaltigung und Schwangerschaftsabbruch die Jugend sittlich gefährdeten. Heute gilt er als unaufführbar, weil... ja, warum eigentlich?
Ein Stück von vorgestern
In Zürich haben sie es versucht, ein Kind, fünf Jugendliche und ein Erwachsener. Dass nichts draus geworden ist, liege ausnahmsweise mal nicht an Corona, sagen sie. Vielmehr sei einfach viel schief gelaufen, viele hätten nicht in ihre Rollen gefunden, manche Szenen seien peinlich gewesen, kurz: Das ganze Stück wirkte irgendwie von vorgestern, ein Anachronismus.
Und so stehen sie jetzt im Schauspielhaus auf einer bühnenbreiten Treppe, um von ihrem Scheitern zu erzählen, davon, warum es noch immer so kompliziert scheint, über Sexualität zu sprechen. Obwohl der Sex doch längst enttabuisiert und allgegenwärtig ist. „Frühlings Erwachen“ heißt das Stück zwar noch immer, doch die Buchstaben sind jetzt durchgestrichen.

Einer glaubt die Ursache des Problems zu kennen: Profischauspieler Matthias Neukirch, hier als eine Art Herbergsvater unterwegs. „Leute, ihr seid einfach zu verkopft!“, mahnt er: „In der Liebe geht es um Gefühle, ums Erleben!“ Heute wüssten die Jungen vor lauter MeToo ja gar nicht mehr, wie sie jemanden ansprechen sollten, ohne dass es als übergriffig gilt.
So ein Quatsch, antworten die Jungen. Das merkt man doch, wo der Flirt endet und die Belästigung beginnt. Wenn es jemandem an Gefühl mangelt, dann offenbar euch Erwachsenen!
Schnell wird klar: Da tut sich eine Kluft zwischen den Generationen auf. Wo der Achtundsechziger unter großen Gefühlen noch Freiheit und Rebellion versteht, denken die Jungen an Achtsamkeit und Rücksichtnahme. Es soll nicht die letzte überraschende Erkenntnis sein, die sich dem alten weißen Mann bietet.
Geheimnisse des Zyklus
Die ganzen Bemühungen seiner Generation um sexuelle Aufklärung zum Beispiel, sie sind weitgehend fruchtlos geblieben. Die Geheimnisse des weiblichen Zyklus sind den meisten Jungen noch heute ein Buch mit sieben Siegeln, und auch manches Mädchen kann mit dem Begriff „fruchtbare Tage“ wenig anfangen. „Ist doch verrückt“, stöhnt Neukirch. „Nach 130 Jahren erleben die das Gleiche wie die Figuren in Wedekinds Stück!“
Woran die liberalen Aufklärer nie gedacht haben: Jugendliche möchten diese Dinge gar nicht mit Lehrern oder Eltern ausdiskutieren. Es liegt im Wesen der Sexualität, dass sich der Mensch sie zu einem Gutteil selbst erschließen will und muss.

Das gilt auch für die gleichgeschlechtliche Liebe. Ein Mädchen aus der Gruppe soll nach dem Willen seiner Freunde demonstrieren gehen und sich gegenüber seiner Familie offenbaren. Für Gleichberechtigung und Akzeptanz kämpfen, das gebiete doch schon die Selbstachtung!
Doch das Mädchen hat dazu eigentlich gar keine Lust, schließlich hat es sich seine sexuelle Orientierung ja nicht selbst ausgesucht: „Kann ich nicht einfach normal leben wie heterosexuelle Menschen auch?“ Aber dann lässt es sich doch überreden, fasst sich also ein Herz und erklärt sich der geliebten Großmutter. Die alte Frau ist von der Nachricht völlig überfordert, das Verhältnis fortan gestört. War es das wirklich wert? Schlägt hier der Kampf um gesellschaftliche Toleranz nicht in sein Gegenteil um?
Überbordende Erwartungen
„Frühlings Erwachen“ kann man deshalb nicht mehr aufführen, weil sich Jugendliche längst ganz anderen Problemen ausgesetzt sehen. Nämlich nicht einer verklemmten Gesellschaft, die Sexualität tabuisiert. Sondern im Gegenteil einer Elterngeneration, die sie mit überbordenden Erwartungen geradezu mystifiziert. Er verstehe gar nicht, was die Erwachsenen nur ständig mit dem Sex hätten, meint ein Junge auf der Bühne: für ihn sei das gar kein großes Thema.
Erfreulich ist, wie souverän sich Suna Gürlers Inszenierung jeder ideologischen Eindeutigkeit entzieht. In den Anekdoten und Kommentaren der Jugendlichen wird weder einer reaktionären Sittenstrenge das Wort geredet noch eine liberale Grundhaltung zum Garanten für sexuelle Selbstbestimmung verklärt. Auch darstellerisch vermag der Abend zu überzeugen, anders als bei Wedekinds Text scheinen sich die Akteure mit ihren Rollen wohlzufühlen. Und doch bleibt die öffentliche Therapiestunde merkwürdig ziellos, frei nach dem Motto: „Gut, dass wir mal drüber gesprochen haben!“
Klüger und reifer?
Als Moral von der Geschichte bleibt, was immer zu erwarten ist, wenn Jugendliche zu Hauptdarstellern auf der Bühne werden. Dass nämlich ihre Sicht der Dinge sich als klüger, reifer erweist im Vergleich zu den nur vermeintlich abgeklärten Erwachsenen. Diese Annahme muss in diesem Fall nicht falsch sein. Aber ein bisschen zu vorhersehbar.
Kommende Vorstellungen: am 7., 9. und 29. Oktober. Weitere Informationen: www.schauspielhaus.ch