Corinna T. Sievers wurde 1965 auf der Ostsee-Insel Fehmarn geboren. Seit ihrem Studium (Medizin, Politik, Wirtschaft, Musikwissenschaften) schreibt sie literarische Texte. Heute wohnt sie in Herrliberg im Kanton Zürich und arbeitet als Fachärztin für Kieferorthopädie mit eigener Praxis, spezialisiert auf angeborene Gesichtsfehlbildungen.
Worauf Frau Doktor literarisch spezialisiert ist, deutet ihr erster Roman im Titel an: „Samenklau“ heißt er. Und tatsächlich: In ihren Werken geht es vornehmlich um körperliche Lust, kurz: Sexus.
Funktionierende Ehen gibt es in ihren Romanen nicht. Monogamie hält sie für eine Illusion, Sex und emotionale Nähe letztlich für unvereinbar. Während Gegenwartsautoren um das Gelingen von Liebesbeziehungen kämpfen, entwickelt sich Corinna T. Sievers zur kühnen Seitenspringerin im Bereich der Literatur. Niemand schreibt so offen, so offensiv – und so ernüchternd – über Sex.
Sievers ist verheiratet, hat zwei Kinder. Die Familie findet es verständlicherweise nicht so toll, was die 53-Jährige schreibt. Sie tut es trotzdem und wird letztlich unterstützt. Und die Patienten? Nach jedem neuen Buch gibt es einen Umsatzrückgang, sagt Sievers, aber dann kommen die Patienten zurück.
Selbstzensur gibt es nicht
Frage: Ist ihr beim Schreiben eine heikle Szene eingefallen, die sie lieber nicht veröffentlicht hat? Sievers: „Mein Motto ist: keine Selbstzensur. Lieber verliere ich Haus und Hof und Ehemann. Oder mit Ingeborg Bachmann: ,Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.‘“
Erotische Literatur ist eine Hochrisiko-Unternehmung. Und Sievers steht damit alleine da. In der übrigen Literatur wird Körperlichkeit unterschlagen, erst recht der Koitus. Geschlechtsteile zu benennen, ist immer noch tabu. Zudem fehlen die Worte.

Die Synonyme für Vagina oder Penis sind einigermassen grässlich. Es fehlt die erotische Kultivierung der Sprache. Wann haben wir zuletzt einen Roman gelesen, der sich der sexuellen Vereinigung widmet?
Es ist, als schäme sich die „hohe“ Literatur wegen unserer „niedrigen“ Instinkte. Und wenn sie darüber berichtet, dann hastig und unbeholfen. Dann geht auch einem sensiblen Autoren wie James Salter der Gaul durch beim Orgasmus: „Die Stille war uberall, und er kam wie ein trinkendes Pferd. Er lag eine lange Zeit auf ihr, traumend, erschopft.“ Ein Pferd. Frau will man da lieber nicht sein.
Ein Preis für schlechten Sex
Wenn Sex in der Literatur überhaupt beschrieben wird, dann meist ausweichend, kurz oder plump. Man kann dafür sogar einen Preis bekommen. Die britische Zeitschrift „Literary Review“ verleiht einen „Bad Sex In Fiction Award“.
Erzählt einer wie Martin Walser im Roman von erotischen Erlebnissen, wird er als „altersgeil“ verhöhnt. Corinna T. Sievers ist Walser-Leserin. Zum Goethe-Roman „Ein liebender Mann“, sagt sie: „Rührend: sein Dialog mit dem eigenen Geschlechtsteil.“
Dass er rührend wirkt, wird den Altmeister aus Nussdorf wenig erbauen. Zudem: Mitleidige Kommentare sind das Letzte, was ein sexuell erregter Mann gebrauchen kann. Genau hier aber hakt Corinna T. Sievers ein. Sie reflektiert alles. Sehr direkt.
So bedingungslos sich ihre Frauenfiguren einem Mann hingeben, so gnadenlos beobachten, taxieren und analysieren sie ihn. Sein Balzverhalten, seine Selbstherrlichkeit, Hilflosigkeit und Verlegenheit, seine Geschlechtsteile, Düfte und Säfte, seine Ignoranz, einfach alles. Auch, was beim weiblichen Orgasmus passiert. Und im Kopf der Frau. Für Männer, die sich nicht auskennen.

Mr. Alfred Charles Kinsey kannte sich aus. Die Kinsey-Reports sind immer noch ein Schocker. Zum Beispiel: „Frauen fühlen sich vom Anblick männlicher Genitalien eher selten erregt.“ Oder: „Ein Drittel der Frauen erklärten, den Gedanken an den eigenen Ehemann nicht als sexuell stimulierend zu erleben.“
Bisexualität, Masturbation, Sadomasochismus, Oralsex – alles im prüden Amerika der 1950er-Jahre, auch von Frauen praktiziert. Die Feministin Alice Schwarzer klärte später über die Funktion der Klitoris beim Orgasmus aus.
Unter Porno-Verdacht
Seit 1982 gibt es Claudia Gehrkes Jahrbuch „Mein heimliches Auge“. Spezialisiert auf weibliche und multisexuelle Erotik geriet es prompt unter Porno-Verdacht. Tatsächlich ist die literarische Qualität der Erzählungen fragwürdig.
Erst Corinna T. Sievers geht im Roman richtig zur Sache, das heißt: Sex plus Selbstreflexion. Ihre Frauenfiguren begehren Männer. Sie brauchen und wollen Sex mit Männern, aber weil sie dabei nicht Objekt werden wollen, erheben sie sich geistig über die Männer, indem sie ihr Paarungsverhalten wie Wissenschaftlerinnen analysieren.
Dem Verlag sei Dank
Allerdings: Wer alles durchschaut, kann sich nicht hingeben, nicht verschmelzen. Das macht einsam, frigide, das hat Tragik – und das unterscheidet Sievers‚ Romane von Pornografie.
Gut, dass sie mit der Frankfurter Verlagsanstalt von Joachim Unseld einen renommierten Verlag gefunden hat. Weiter so. Wie ein Mann in eine Frau dringt Corinna T. Sievers mit ihren Romanen immer tiefer in das Sexualverhalten unserer Tage als einsames Geschäft. Der Nächste, bitte.