Steffen Rüth

Da ist es also endlich, dieses vielbeschworene Ding namens „Vielfalt“, unter noch moderneren Menschen auch gern als „Diversity“ bezeichnet. Jahrelang wurde über Diversität ja hauptsächlich dann gesprochen, wenn es ihren Mangel zu beanstanden gab, immer war nicht nur irgendeine Bundestagsfraktion oder irgendein Vorstand zu weiß, zu männlich und meistens auch zu alt, sondern eben auch eine Oscar-Vergabe oder gleich die ganze Unterhaltungsindustrie als solche. Doch damit ist jetzt Feierabend. Vielleicht nicht für immer, aber zumindest mal für 2019. Den stärkeren Aufschlag hatten die Frauen.

Sprachrohr der Jugend

Über Billie Eilish aus Kalifornien, die soeben ihre Volljährigkeit zelebrieren durfte, wussten vor einem Jahr nur Fachleute Bescheid. Jetzt ist das Mädchen mit der flüsterhaften Gänsehautstimme, den bunten Haaren, den klobigen, freilich gern von Designern wie Prada, Louis Vuitton oder Gucci kommenden Kleidungsstücken und diesen fast furchterregend intensiven, alptraumflirrenden, dabei immer noch poptauglichen Songs wie „Bury A Friend“ oder „Bad Guy“ der mutmaßlich zweitpopulärste Teenager der Welt. Ihre Rolle als Sprachrohr der Jugend nimmt sie zunehmend an. „Wir lassen uns nichts mehr gefallen“, sagt Billie. „Ich habe keine Lust, das Chaos der Alten aufzuräumen, wenn sie tot sind. Es wird Zeit, dass sich etwas ändert.“ Sollten sich Billie Eilish und Greta Thunberg, der andere frühweise Teenager mit Binnen-eines-Jahres-Weltkarriere, zusammentun und ein Lied aufnehmen (Thunberg ist ja schon auf „The 1975“ von The 1975 zu hören) – die Welt wäre möglicherweise auf einen Schlag gerettet.

Sie ist dick, schwarz und stolz darauf:  US-Rapperin Lizzo.
Sie ist dick, schwarz und stolz darauf: US-Rapperin Lizzo. | Bild: ANGELA WEISS/Afp

Während Billie Eilish ihren Körper unter dem Deckmantel in Form von Baggy-Klamotten versteckt, gehören die weiblichen Kurven, die sich auf insgesamt 140 Kilogramm Loud-and-Proud-Lebendgewicht addieren, bei Lizzo ausdrücklich mit zum Gesamtpaket. So postete die 31-Jährige, die bürgerlich Melissa Jefferson heißt, vor kurzem ein Foto ihres, pardon, Arsches auf Instagram, mit der Botschaft, dass man ebenjenen doch bitte küssen (in der deutschen Sprache wird hier in der Regel ein weniger edles Wort verwendet) möchte, wenn einem dieser Anblick nicht passe. „Ich bin auf einer Mission“, stellt sie klar. „Ich bin dick, schwarz und eine Frau. Und ich bin stolz darauf.“ Selbstakzeptanz und Selbstliebe sollten selbstverständlich sein, so Lizzo. Musik macht Lizzo auch. Sie rappt, aber noch mehr singt sie, die Stimme ist formidabel, ein bisschen wie bei der jungen Aretha Franklin. Mit ihrem dritten Album „Cuz I Love you“, machte die Pop-Aktivistin dann alles platt und setzt sich mit „Truth Hurts“ an die Spitze der US-Charts.

Das Aussehen ist dem schottischen Sänger Lewis Capaldi einfach egal.
Das Aussehen ist dem schottischen Sänger Lewis Capaldi einfach egal. | Bild: ANGELA WEISS/AFP

Dem eigenen Körper vollkommen gleichgültig gegenüber steht Lewis Capaldi. Der 23 Jahre alte Junge aus Glasgow geniert sich nicht, Journalisten auch schon mal im Schlafanzug zu empfangen, seine Witze zünden auch nicht immer, aber mit dieser einen Ballade über seine Ex-Freundin, mit der geht Capaldi in die Geschichtsbücher ein. „Someone
You Loved“, dieses traurig-wohlige Liebeskummerklagelied ist quasi der kleine Bruder von Adeles (wo war die eigentlich dieses Jahr?) „Someone Like You“. Der Song gießt sich in die Ohren wie Sirup, man kriegt ihn auch durch Waschen nicht mehr raus, irgendwann fängt er auch ein wenig an zu nerven, aber schön ist er nichtsdestotrotz.

Schwarz und schwul

Ein Witz, aber ein guter, war und ist der Rapper Lil Nas X, der in seinem Superhit „Old Town Road“ schamlos Hip-Hop, Country und Pop vermengt, erst 20 Jahre alt ist, schwarz und schwul. So einen kann man gar nicht erfinden. Seine einzig- wie eigenartige Nummer, auf der auch Mileys Countrysängervater Billy Ray Cyrus mitmacht, war auf Platz Eins in wirklich allen großen Ländern der westlichen Welt, in Deutschland wurde „Old Town Road“ offiziell zum „Hit des Jahres“ gekürt.

Mit dem Song „Vincent“ wirbelte Sarah Connor einigen Staub auf.
Mit dem Song „Vincent“ wirbelte Sarah Connor einigen Staub auf. | Bild: Axel Heimken/dpa

Und schwupp, sind wir bei Sarah Connor, die mit ihrer wunderbaren Songzeile „Vincent kriegt keinen hoch, wenn er an Mädchen denkt“ weitaus mehr rückschrittlichen Staub aufwirbelte (einige Radiosender boykottierten den auch musikalisch recht fetzigen Song „Vincent“ sogar) als von ihr selbst für möglich gehalten. Dennoch lief es auch bei Connor und ihrem zweiten deutschsprachigem Album „Herz Kraft Werke“ formidabel – Jahresrang Zwei in Deutschland, vor Udo, Herbert und Andrea Berg.

Rammstein setzten ein Zeichen gegen  Homophobie.
Rammstein setzten ein Zeichen gegen Homophobie. | Bild: Instagram/rammsteinofficial

Was bleibt sonst noch hängen? Als sich Richard Kruspe und Paul Landers von Rammstein in Moskau auf der Bühne küssten, war das nicht nur ihr Britney-und-Madonna-Moment, sondern ein ganz unironisch starkes Statement gegen Homophobie. Madonnas „Madame X“-Album war besser als sein nach dem verkorksten ESC-Auftritt völlig ramponierter Ruf, Taylor Swift hat sich mit ihrem Liebesalbum „Lover“ wieder gefangen, der aus Südkorea kommende, ultrazuckrige, überperfektionierte K-Pop hat sich mit Bands wie BTS (Jungs) oder Blackpink (Mädchen) auch bei uns im Mainstream verankert, einige Alte Weiße Männer recyclen sich nun selbst (Westernhagen, Die Toten Hosen, Carpendale), andere stellen nochmal was neues auf die Beine (Tool, The Who). Und von Helene Fischer war (bis auf ein schlaffes Weihnachtslied mit Robbie Williams) nichts zu hören. Danke 2019.