Ein Polizist liegt am Boden. Blut rinnt aus seinem Nacken. Die rote Lache färbt den kalten Boden des Münchner Hauptbahnhofs. Otto Schneider ist zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg zur U-Bahn. Er kam mit dem ICE aus Köln. Der Bierbrauer muss zur Arbeit. Es ist Montag, 6.30 Uhr. Und Schneider ahnt nicht, dass er in einen Kriminalfall mitspielen wird. Doch der ist nicht fiktiv. Dieser Tatort ist Realität.

„Ich wusste sofort, dass irgendwas nicht stimmt“
Kurz vor der Rolltreppe hinunter in die Katakomben wird Schneider stutzig. Im Untergeschoss des Hauptbahnhofs sind Schreie zu hören. „Ich wusste sofort, dass irgendwas nicht stimmt“, schildert er dem SÜDKURIER einige Wochen später. Schneider zögert nicht. Für ihn ist klar: Ich muss helfen.
Er schiebt sich durch die Menschenmassen. Im Zentrum der Traube liegt ein Polizist regungslos am Boden. Schneider kniet, fragt, was passiert sei. „Aber er sagte nur, dass er seinen Körper nicht mehr spürt.“
Später stellt sich heraus: Der Polizist wurde von einem 23-Jährigen während einer Personenkontrolle aus heiterem Himmel niedergestochen. Das Messer dringt im Nacken ein, verletzt die Wirbelsäule. Die Klinge bricht ab, wird später in einer Not-Operation entfernt. Der 30-jährige Polizist schwebt in Lebensgefahr und wird wohl sein Leben lang auf den Rollstuhl angewiesen sein.
Einige andere Helfer stehen abseits, halten den mutmaßlichen Täter fest. Der sitzt am Boden. Starrt in die Luft. Bewegt sich nicht. „Ich hatte den Eindruck, dass er genau wusste, was er da getan hat. Reue zeigte dieser Mann nicht“, erinnert sich Schneider.
Verdächtiger in Psychiatrie untergebracht
Und er soll recht behalten. Laut Staatsanwaltschaft hat der mutmaßliche Täter als Motiv „allgemeinen Hass auf die Polizei angegeben“. Er habe gezielt einen Polizisten töten wollen und soll mit diesem Entschluss das Haus mit einem Küchenmesser verlassen haben. Der Verdächtige wurde in einer Psychiatrie untergebracht.
An Heiligabend erinnert die Polizei München per Twitter an ihren immer noch schwer verletzten Kollegen. Sie schreibt:
„Unser Wunsch ans Christkind:
Nach dem Angriff mit einem Messer am HBF ist unser Kollege immer noch schwer verletzt. Wir hoffen, dass er wieder gesund wird, damit er zurück in den Dienst kommen und, was noch wichtiger ist, dass er seine Ziele und Träume verwirklichen kann.“
Auch wenn dieses feige Attentat ein Extremfall ist – dass die Gewalt gegen Ordnungshüter größer wird, ist unbestritten. Das beweisen die Zahlen. Denn aus der Polizeilichen Kriminalstatistik aus dem Jahr 2018 geht hervor, dass Gewaltdelikte gegen Polizisten im Gebiet zwischen Ravensburg und Konstanz von 408 auf 457 Straftaten zugenommen haben. Singen, Ravensburg, Wangen und Sigmaringen sind Schwerpunkte. Polizisten aus der Region berichten dem SÜDKURIER immer wieder von körperlichen Attacken aus allen Gesellschaftsschichten. Oft sind Alkohol und andere Drogen im Spiel. Spucken und Beleidigung gehören zum bitteren Alltag.
Frustration in der Gesellschaft lässt Menschen zu Tätern werden
Warum wird aus Freund und Helfer, Feind und Opfer? Der Psychologe und Aggressionsforscher, Christoph Paulus, sucht Antworten. Auch er stellt fest, „dass der Respekt gegenüber Polizei, Feuerwehr, Notarzt deutlich abnimmt.“ Der Grund: Die Menschen sind frustrierter. Frust mündet in Aggression. Und die in körperliche Gewalt.

Der Weg zum Frust ist vielschichtig. Ein Beispiel ist das soziale Umfeld. Wer in einem aggressiven Milieu aufwächst, hat andere Wertvorstellungen. In diesen Kreisen gilt nicht Recht und Gesetz, sondern das Recht des Stärkeren. Alkohol- und Drogenkonsum wirken zudem enthemmend. „Die Kombination ist folgenschwer. Wenn dann ein Polizist als Repräsentant des Staates und als Symbol allen Übels auftaucht, brennen die Sicherungen durch“, sagt Aggressionsforscher Paulus.
Unmittelbar vor einer Tat stellen sich Angreifer nämlich – psychologisch betrachtet – zwei Fragen. Nicht: Ist meine Handlung richtig oder falsch? Sondern: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit erwischt zu werden und welche Strafe droht mir?
„Wenn das Risiko kalkulierbar ist, schlagen Täter eher zu“, sagt Paulus. Mehr Bodycams an den Polizeiwesten schrecken ab. Und Sicherheitskameras an öffentlichen Plätzen wirken präventiv. „Aber wenn die Gerichtsverhandlung und die Strafe zu weit in der Zukunft liegen, ist das für viele ein Freifahrschein“, sagt Paulus. Heißt vereinfacht: Je größer der Abstand zwischen Tat und Strafe, desto größer die Gewaltbereitschaft.
Seiner Erfahrung nach dauere es etwa im Saarland teilweise zwei Jahre, bis es zur Gerichtsverhandlung kommt. Und auch in Baden-Württemberg ist die Justiz auf Kante genäht. Die Debatte um mehr Personal lodert seit Jahren vor sich hin. Viele Sicherheitsbeamte gehen derzeit in den Ruhestand. Zu wenig Ordnungshüter kommen nach. Darunter leiden vor allem die Polizisten auf der Straße.