Wie schätzen Sie die Lage ein aufgrund der nun getroffenen Maßnahmen durch die Bundesregierung?

Wir sind mittendrin im Geschehen. Wir erleben einen rasanten Anstieg mit mehr als 1000 Fällen pro Tag, aber wir haben noch keine italienischen Verhältnisse. Seit Anfang der Woche werden sehr restriktive Maßnahmen, in Bayern wurde in ersten Kommunen eine Ausgangssperre verhängt. Wir müssen nun die kommenden 14 Tage abwarten und sehen, inwieweit sich das niederschlägt – also ob die Neuinfektionen sinken.

Wann könnte ein Peak erreicht sein?

Ich denke, es ist sinnvoll, sich mit Italien zu vergleichen als europäisches Land. Wir hängen etwa ein bis zwei Wochen hintendran, was das Infektionsgeschehen angeht. Wenn die Italiener nun also sagen, sie sind langsam durch und binnen ein bis zwei Wochen den Höhepunkt der Ausbreitung erwarten, dann würde ich das für Deutschland mit ein bis zwei Wochen Verzögerung sehen. Das heißt, bis dahin sollten die Zahlen der Neuinfektionen wieder sinken.

Martin Stürmer, Virologe und Leiter des IMD Labors in Frankfurt
Martin Stürmer, Virologe und Leiter des IMD Labors in Frankfurt | Bild: privat

Italien hat ja zu massiven Maßnahmen gegriffen. Muss Deutschland nachziehen, um die Epidemie noch in den Griff zu bekommen?

Das ist die Frage, ob wir zum Äußersten greifen sollten oder erst einmal abwarten, was passiert. Aber bei dieser Erkrankung ist jeder Tag wichtig, das erleben wir im Moment. Insofern muss die Politik gerade einen Spagat leisten zwischen der Abwägung, abzuwarten, und eine Ausgangssperre zu verhängen. Denn das ist das Rigoroseste, was man tun kann. Ich kann die Behörden schon verstehen, wenn sie zu solchen Maßnahmen greifen: Denn wenn die Leute bei schönem Wetter trotzdem in Biergärten und Cafés zusammensitzen, ist das kontraproduktiv. Wenn die bisherigen Maßnahmen nicht ernst genommen werden, ist es verständlich, wenn eine Ausgangssperre folgt. Aber das trifft dann natürlich auch Leute, die Kinder haben, vielleicht keinen eigenen Garten. Viel Spaß, wer da 14 Tage festsitzt.

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Halten Sie es für möglich, dass die aktuellen Maßnahmen nicht ausreichen?

Ich befürchte, dass es schief gehen könnte. Um das zu verhindern, wäre die Ausgangssperre das letzte Mittel, der letzte Schritt. Ich würde dieses Ass vorerst im Ärmel aufheben. Dagegen steht, dass für jeden Tag, an dem ich es nicht tue und Menschenansammlungen beobachten muss, wertvolle Zeit verloren geht.

Wie schätzen Sie die Entwicklung eines Impfstoffs ein? Die Tübinger Firma geht ja optimistisch davon aus, dass bis Herbst ein Impfstoff entwickelt sein wird. Wie wird sich das auf die Entwicklung der Pandemie auswirken?

Es gibt Modellrechnungen, welche Parameter dazu führen, dass eine Pandemie zum Erliegen kommt. Die erworbene Immunität ist ein sehr wichtiger Parameter davon. Wenn wir nicht 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung krank werden lassen müssen, um das zu erreichen, ist das ein großer Fortschritt. Das Tübinger Unternehmen verwendet aber eine andere Technik als bisher, um den Impfstoff zu entwickeln. Es mag sein, dass es mit dieser Methode schneller geht. Aber einen Impfstoff entwickelt zu haben, heißt noch nicht, dass er verwendet werden darf. Klinische Tests sind erst der Anfang. Und dass an der Sicherheit bei Impfstoffen nicht gerüttelt wird, hat das Bundesministerium für Gesundheit bereits deutlich gemacht. Die klinischen Studien müssen also durchlaufen werden, so dass es keine Nebenwirkungen gibt und der Impfstoff funktioniert. Ich würde deshalb eher dahin tendieren, dass wir frühestens Ende des Jahres oder Beginn des kommendes Jahres einen Impfstoff haben.

Wie lange dauert es, bis Impfstoff Wirkung zeigt und die Neuinfektionen eingedämmt werden?

Wenn wir als Vergleich den Grippeimpfstoff nehmen, so vergehen bis zu 14 Tage, bis er im Körper Wirkung zeigt. Doch ein zusätzlicher Faktor ist, wie schnell man ausreichende Massen des Impfstoffs produzieren kann. Wie schnell die Menschen bei einem Corona-Impfstoff Immunität entwickeln, ist aber schwer zu sagen.

Kann eine Impfung inmitten der Pandemie überhaupt noch helfen?

Auch hier können wir mit der Grippe vergleichen. Relativ viele Menschen erkranken an der Grippe, es gibt viele Übertragungen. Wenn die Grippewelle schon aktiv ist, wird deshalb selten geimpft. Generell wird die Grippeimpfung vor Ausbruch der Grippewelle empfohlen. Wenn die Grippewelle schon aktiv ist, kann je nach Situation auch noch geimpft werden.

Könnte der Impfstoff zu spät kommen?

Das hängt davon ab, wie wir die Infektionswelle steuern können. Ziel ist ja, die Infektionswelle abzuflachen. Die, die bis dahin noch nicht infiziert sind, kann man dann noch impfen, dadurch könnte die Belastung für das Gesundheitssystem verringert werden und den Patienten erspart bleiben, die Krankheit durchzumachen. Deutschland ist mit inzwischen über 12.000 Infizierten (Anm. d. Red.: Stand 19. März, 11 Uhr) auf die Gesamtbevölkerung gerechnet immer noch relativ wenig betroffen.

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Wenn sich wie vielfach prognostiziert 60 bis 70 Prozent der Bürger infizieren, mit wie vielen Toten müssen wir dann rechnen in Deutschland? In einem Interview sprachen sie von 500.000 Toten...

Mit dem strikten Einhalten der Maßnahmen verhindern wir eine massive Anzahl von schweren Krankheitsfällen in kurzer Zeit. Die Anzahl der Toten wird sich aber durch das Strecken der Kurve nicht ändern, sondern
nur anders verteilen, außer es gelingt zeitnah, einen Impfstoff zur Verfügung zu haben. Dann könnte man den Rest der Bevölkerung impfen, anstatt sie die Infektion durchmachen lassen zu müssen. Oder aber es wird rechtzeitig ein Medikament verfügbar sein, mit dem die schweren Verläufe abgemildert werden können, auch dann wäre mit weniger Toten zu rechnen.

In manchen Ländern sind die Fallzahlen verdächtig gering – Russland zum Beispiel. Halten Sie das für realistisch?

Ich habe da meine Zweifel, gerade bei solchen Systemen wie in Russland. Das Land ist groß, wir wissen gar nicht, was da passiert. Ich kann es mir nicht vorstellen, dass es da bei dem kleinen roten Fleck auf der Karte bleibt, den wir bislang in den offiziellen Statistiken sehen.

Geschönte Zahlen sind eine Sache. Aber was ist mit den Ländern, die wegen schlechter Grundversorgung gar nicht gegen das Virus kämpfen können?

Das wird sehr davon abhängen, ob und wie Eindämmungsmaßnahmen umgesetzt werden. Wenn es ärmere Länder betrifft und die Wirtschaft ohnehin nicht so effektiv ist, dann wird das zu massiven Problemen in den Ländern führen. Dann muss man mit vielen Fällen in kurzer Zeit rechnen und möglicherweise auch mit mehr Todesfällen. Weil keine ausreichenden Intensivbetten zur Verfügung stehen und keine Intensivplätze in der Qualität wie in Deutschland. Das ist etwas, was ich mit Sorge betrachte.

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Müssen wir trotz der Eindämmungsmaßnahmen damit rechnen, dass die Epidemie sich weiter ausbreitet?

Ich gehe davon aus, dass sie sich weiter ausbreitet. Nicht in dem Tempo wie derzeit, aber denke schon, dass sich die Verbreitung verlangsamen wird. Wir kommen in die warme Jahreszeit, das wird sicher eine gewisse Rolle spielen, wenn auch nicht der Faktor sein, der die Pandemie stoppt.

China ist ja nicht mehr das Epizentrum der Epidemie, inzwischen ist es Europa. Rechnen Sie damit, dass auch die übrigen Kontinente so erfasst werden?

Die bislang kleinen roten Flecken auf der Landkarte in Südamerika und Afrika werden jeden Tag größer. Das Bild, was wir vorher hatten, in dem China ein einziges rotes Gebiet war, hat sich verändert. Aus ein paar Fällen in Europa wurde eine Pandemie. Ähnlich sieht es in den USA aus. Daher ist es nur realistisch, dass es auch in Südamerika und Afrika so kommen wird.

Können wir den Entwicklungsländern überhaupt noch helfen, wenn wir schon jetzt massive Geldspritzen für die krisengebeutelten Branchen im eigenen Land aufbringen müssen?

Im Augenblick sind wir tatsächlich sehr mit uns selbst beschäftigt. Erfahrungsgemäß wird uns das wenig Luft lassen für anderes. Inwieweit wir neben Milliardenhilfen für die eigene Wirtschaft noch Ressourcen haben, jenen zu helfen, die es nötig haben, ist fraglich. Dann wird sich zeigen, ob wir eine Solidargemeinschaft sind. Dagegen steht, dass wir schon jetzt logistisch mit vielen Dingen an der Kapazitätsgrenze stehen – was Tests, Schutzmaterial und ähnliches angeht. Von daher bin ich skeptisch, ob wir Möglichkeiten finden, den schwächeren Ländern unter die Arme zu greifen.

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Wie schlimm wird die Epidemie Afrika treffen?

Wenn es Afrika so trifft wie derzeit Europa, ist uns wohl allen bewusst, dass es heftig würde. Die neue Ebola-Epidemie im Kongo ist immer noch nicht zu Ende. Afrika leidet unter vielen Dingen, unabhängig von Viren. Wie Malaria, um nur ein Beispiel zu nennen.

Was kann jeder Einzelne von uns tun, um die Pandemie zu verlangsamen?

Jeder Einzelne muss sich seiner Verantwortung bewusst sein. Die Einschränkungen sind nicht da, um die Menschen zu ärgern. Vielmehr können alle dazu beitragen, die Ausbreitung signifikant zu verlangsamen. Damit schützen wir uns selbst, unsere Mitmenschen und sorgen zusätzlich dafür, dass unser Gesundheitssystem funktionsfähig bleib. Dazu gehört, auch bei schönem Wetter nicht zusammen in den Biergarten zu sitzen, sondern eben alleine auf dem Balkon oder im Garten. Dass man spazieren geht, statt sich auf einer Party zu treffen.

Sie sprechen aus Erfahrung…

Richtig, ich sitze selbst in Quarantäne, weil ich in Nordtirol in Urlaub war. Deshalb gehe ich nicht vor die Tür. Aber ich höre von Freunden und Kollegen, dass die Menschen in der Stadt nach wie vor in Cafés zusammensitzen, als wäre nichts. Wir sollten uns fragen, wie lange wir diese, salopp ausgedrückt, Scheiß-egal-Mentalität noch an den Tag legen können.