Frau Gerstner, Sie bieten Letzte-Hilfe-Kurse an. Was ist darunter zu verstehen?
Jeder von uns kennt Erste-Hilfe-Kurse. Sie sind verpflichtend, zum Beispiel, wenn wir einen Führerschein machen wollen. Sie vermitteln uns Wissen, um Leben zu retten. Aber ebenso wichtig ist es, kranke und sterbende Menschen auf ihrem Weg zu begleiten, ihnen die Hand zu reichen. Die Letzte-Hilfe-Kurse vermitteln Basiswissen und Orientierungen sowie einfache Handgriffe, wie wir Schwerkranke und Sterbende begleiten können.
Wir haben ein gut ausgebautes Gesundheitssystem, wir haben Palliativ-Stationen und Hospize. Wieso benötigen wir dann noch Letzte-Hilfe-Kurse?
Das Sterben begleitet uns durch das ganze Leben, es betrifft jeden von uns, Angehörige, Freunde und Nachbarn. Und schließlich werden wir selber auch irgendwann sterben. Dennoch ist das Sterben heute weitgehend aus der Öffentlichkeit verbannt. Viele Menschen wissen nicht, damit umzugehen. Sie haben Angst. Aber Sterbebegleitung ist praktizierte Mitmenschlichkeit und keine Expertenwissenschaft. Die Letzte-Hilfe-Kurse wollen genau das geben: eine Anleitung zur Selbsthilfe. Die Angst vor dem Sterben lindern und sie darauf vorbereiten, wie man sich auf das Sterben Angehöriger, von Freunden oder auch den eigenen Tod vorbereiten kann.
Wie kann man die Angst vor dem Sterben überwinden?
Durch Wissen, durch Verstehen. Dann verliert man auch ein Stück weit die Angst. Angst beginnt im Kopf, aber Mut eben auch. Und Wissen macht Mut.

Was heißt das konkret?
Sterben ist nicht immer schön, auch Kranksein nicht. Aber, wir können lernen, das Sterben als etwas Normales zu sehen, etwas, das zum Leben dazugehört. Beim Erste-Hilfe-Kursus gilt als Grundregel: Ruhe bewahren, nicht weggehen und Hilfe holen. Das gilt ebenso bei der Sterbebegleitung: Wir müssen Ruhe bewahren, dem Menschen die Hand reichen und wissen, wo wir Hilfe holen können. Jeder Mensch stirbt anders, jeder ist auch anders krank und so begleitet und pflegt auch jeder anders. Sterbebegleitung heißt auch, sich damit auseinanderzusetzen, was man selber vom Leben erwartet. Dazu gehört auch, eine Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung ausgestellt zu haben, denn sie entlastet mich und die Familie im Alltag.
Früher gab es Rituale, die das Sterben begleiteten. Sie sind vielfach aus unserem Leben verschwunden. Könnten sie helfen?
Ja. In jedem Fall. Die Pflegebedürftigen lagen früher in dem Nebenzimmer zur guten Stube, wurden dort auch aufgebahrt. Die Menschen, vom Kind bis zum Nachbarn, hatten die Möglichkeit, die Sterbenden zu begleiten und die Verstorbenen mit allen Sinnen zu erfassen. Sie konnten sie anfassen, ihre Kälte spüren. Die ist anders als bei einem Lebenden. Sie konnten sinnlich erfassen, dass dort nur noch eine menschliche Hülle liegt, die der Geist verlassen hat. Die Angehörigen wuschen ihre Toten noch selber und kleideten sie ein. Sie erwiesen ihnen einen letzten Liebesdienst.
Heute übernehmen Bestattungsunternehmen diese Aufgaben. In vielen Kliniken werden die Toten heute nach vier Stunden versorgt und dann aus dem Zimmer gebracht, da gibt es oft keine Zeit und Möglichkeit, um Abschied zu nehmen.
Welche Möglichkeiten bleiben Angehörigen heute, Sterberituale zu leben?
Auch heute sind Sterberituale noch für die Angehörigen möglich. In manchen Häusern können die Verstorbenen noch bis zu 24 Stunden in ihrem Zimmer bleiben, damit Angehörige Abschied nehmen können. Manche Bestattungsunternehmen bieten den Angehörigen die Möglichkeit, den Verstorbenen noch einmal zu waschen und ihn anzukleiden. Sie bahren den Toten auf. Es ist aber auch möglich, den Verstorbenen nach dem Tod bis zu drei Tagen nach Hause zu holen, ihn dort noch einmal aufzubahren, damit die Familie und Freunde in Ruhe Abschied nehmen können.
Angehörige können die Todesanzeigen auch selbst gestalten oder ein Sterbebild erstellen. Sie können sogar den Sarg selbst gestalten. Früher hat man bis zu einem Jahr schwarze Kleidung getragen, um zu zeigen, dass man in Trauer ist. Mit den Trauernden wird dann anders umgegangen. Heute erkennt keiner mehr, ob jemand in Trauer ist. Somit wird der Austausch im Umfeld des Trauernden umso wichtiger.

Wie ist der Letzte-Hilfe-Kurs aufgebaut, was kann ich von dort mitnehmen?
Der Kurs umfasst bei uns viereinhalb Stunden und ist in vier durch Pausen getrennte Module eingeteilt. Das erste Modul befasst sich mit dem Thema: „Sterben, ein Teil des Lebens“. Im Mittelpunkt des zweiten Moduls „Vorsorgen und entscheiden“ stehen die Vorsorgevollmacht und die Patientenverfügung. Im dritten Modul befassen wir uns mit der palliativen Versorgung unter dem Titel „Leiden lindern“ und zum Schluss geht es im vierten Modul um das Thema „Abschied nehmen“.
In allen vier Modulen wollen wir mit vielen Beispielen aus unserem langjährigen Erfahrungsschatz bei den Kursteilnehmern eine Offenheit dafür erreichen, das Sterben mit ins Leben zu nehmen. Wo können wir unterstützen zum Beispiel in der Nachbarschaft, wo ein Angehöriger viele Stunden bei dem Sterbenden auf der Station verbringt. Vielleicht kann ich die Blumen gießen oder die Kinder betreuen. Es muss nicht immer gleich die 24-Stunden-Pflege sein. Wir vermitteln aber auch leichte Pflegearbeiten, zum Beispiel Mundpflege, wenn Sterbende nicht mehr trinken oder essen wollen.
Ihre beiden Kurse in Scheidegg waren schnell ausgebucht. Wer kommt zu Ihnen?
Leider in der Regel die Menschen, die es vielleicht gar nicht so nötig hätten, die aus Pflegeberufen oder Ähnlichem kommen. In Scheidegg ist das allerdings anders, weil zwei Frauen ihr sehr aktives Netzwerk mobilisiert haben. Da erreichen wir die Menschen, die wir ansprechen wollen, nämlich einen breiten Querschnitt durch die Bevölkerung.
Unser Kurs ist ein präventiver Kurs. Man sollte ihn also nicht erst besuchen, wenn man schon mittendrin steckt in einer Sterbebegleitung. Unsere Kurse sind so aufgebaut, dass wir ohne große medizinische Fachbegriffe auskommen. Wir befassen uns mit der Frage, wieso Essen und Trinken für einen Sterbenden nicht mehr gut ist, beispielsweise, dass man manchmal durch Nichtstun viel mehr tun kann.

Was schwebt Ihnen als Erweiterung der Kurse vor, um vielleicht häufiger eine breite Schicht von Menschen anzusprechen?
Am besten wäre es, wenn der Gesetzgeber die Letzte-Hilfe-Kurse genauso verpflichtend machen würde wie die Erste-Hilfe-Kurse. Gut wäre es, wenn wenigstens Firmen oder Versicherungen Letzte-Hilfe-Kurse anbieten oder bezahlen würden. Das würde der Bedeutung der Kurse gerecht, denn die Menschen werden immer älter und die Krankenhäuser können allein die Aufgabe nicht bewältigen.
Wir sind alle gefordert, uns mit dem Sterben und der Sterbebegleitung zu befassen. Im nächsten Frühjahr wollen wir außerdem einen Letzte-Hilfe-Kurs für Kinder anbieten, dann natürlich mit vielen spielerischen Elementen. Denn unsere Kinder werden uns begleiten. Wie heißt es so schön: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!“
Wann verbuchen Sie den Kurs als Erfolg?
Wenn die Menschen sagen, ich verfüge jetzt über ein Wissen, das ich umsetzen kann, ich muss nicht mehr wegschauen. Wenn jemand den Sterbeprozess begleiten und ihn als schwere, aber gute Erfahrung werten kann, dann ist das ein Erfolg. Für mich persönlich ist es eine Ehre, einen Menschen auf dem Sterbeweg begleiten zu dürfen und deren Angehörigen eine Stütze zu sein. Jemanden an die Hand nehmen zu dürfen, erfüllt mich mit Ehrfurcht und Dankbarkeit.
Zur Person
Andrea Gerstner, 45, arbeitet als Palliativ-Krankenschwester in München und ist unter anderem auch zertifizierte Trauerbegleiterin. Gemeinsam mit Annemarie Schmid, ebenfalls zertifizierte Trauerbegleiterin und Hospizbegleiterin, veranstaltet sie Letzte-Hilfe-Kurse. Beide stützen sich dabei auf ein von Dr. Georg Bollig entwickeltes Konzept, das der Palliativmediziner vor rund zehn Jahre auf diversen medizinischen Veranstaltungen vorstellte. In Deutschland wurde der erste Letzte-Hilfe-Kurs 2015 angeboten. Heute halten deutschlandweit rund 1500 Männer und Frauen Letze-Hilfe-Kurse ab.„Letzte Hilfe-Kurse“ im Internet unter: www.wegbegleitung-muenchen.com