Darf er das? Diese Frage beschäftigt viele empörte US-Bürger. Mit einer einzigen, wohl dosierten Geste hat Donald Trump viele seiner Mitbürger provoziert – all jene, die sich kirchlich engagieren oder religiös interessiert sind und die ein Gespür dafür haben, was echt ist und was nicht. Der Präsident ging zu Fuß die wenigen Schritte vom Weißen Haus zur St. John Episkopalkirche hinüber und streckte demonstrativ eine Bibel in schwarzem Einband in die Höhe. Diese Geste des Triumphs machte die Runde. Sie ging über die Bildschirme wie alle Aktionen des Staatschefs.
Zu den Kirchen pflegte Donald Trump bisher kein enges Verhältnis. Anders als seine Vorgänger im Amt des US-Präsidenten ignoriert er sie nahezu, obwohl vor allem evangelikale Kreise in den Vereinigten Staaten überwiegend den republikanischen Kandidaten bevorzugen. Jimmy Carter, die Bushs, Bill Clinton bis hin zu Barack Obama hielten mindestens nach außen Kontakt zu den Predigern und besuchten die Gottesdienste in St. John. Das anglikanische Gotteshaus gilt deshalb als Präsidentenkirche. Anders Donald Trump, der aus seinem Desinteresse an Religion kein Geheimnis macht.
Umso überraschender erfolgte der Ausflug zu zwei exponierten christlichen Stätten. Er fällt in eine aufgewühlte Zeit mit sinkenden Umfragewerten für den Präsidenten. Stark bewaffnete Polizei bahnte ihm den Weg und schob jene Bürger weg, die nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd gegen Rassismus demonstrierten. Die Polizisten schob auch jene Geistlichen weg, die eine Hilfsstation für die Protestierenden aufgebaut hatten. Mit Gummigeschossen und Knüppeln öffneten sie eine Gasse, durch die Trump und seine Begleiter zur Kirche gelangten. Dort angekommen, hielt der Präsident eine Bibel nach oben – wie einen Siegerpokal.

Mindestens bei den kirchlichen Führern kam das schlecht an. „Er kam nicht, um zu beten“, sagt Mariann Budde, Bischöfin und für St. John zuständig. Sie verurteilte die Show, die der US-Präsident vor St. John aufführte, als er mit dem Buch hantierte wie mit einem Schießeisen. Die Bischöfin Budde verurteilte den Besuch als „Missbrauch“.
Trumps Abstecher in die benachbarte Kirche ist offenbar Teil einer Strategie: Er will im Vorfeld der Präsidentenwahl im November gut Wetter bei den Christen machen. Denn wenig später stattete er einer katholischen Stätte in Washington einen Besuch ab, diesmal begleitet von seiner Frau Melania: Er sprach beim Nationalschrein Johannes Paul II. vor, der dem polnischen Papst gewidmet ist. Der Erzbischof von Washington, Wilton Gregory, kritisierte den Besuch als „Manipulation“ und stellte sich gegen die „Instrumentalisierung des Gotteshauses.“
Gregory ist der erste Farbige in diesem Amt. In diesem Fall hat er als Erzbischof keinen Zugriff auf das Haus. Es wird von einer Bruderschaft unterhalten, die dem Präsidenten den Besuch ermöglichte.