Alles begann mit zehn Sekunden Schmerz. „In der rechten Hüfte mittig-seitlich“, erinnert sich Markus Hilser an eine Nacht im September 2019. Einen solchen Schmerz hatte der Schwarzwälder bis dato noch nie gespürt. Dann war er wieder weg und Hilser schlief weiter.

Doch für den Mann aus Lauterbach im Landkreis Rottweil war es ein Alarmsignal. „Ich wusste: Etwas stimmt mit meinem Körper nicht“, sagt er.

Am nächsten Tag ließ er im Schwarzwald-Baar-Klinikum in Villingen einen Ultraschall machen. „Ich habe mich vorher informiert“, so Hilser. „Ich hatte eher gedacht, dass es eine Entzündung am Hoden ist, einen Tumor hatte ich ausgeschlossen.“ Denn: „Krebs betrifft nur andere, nicht mich selbst.“

Nach der Diagnose wie „ein Ochse vorm Berg“

Doch es kam anders. Als eine Ärztin ihm die Diagnose mitteilte, sei er überwältigt gewesen. „Ich wusste nicht, wie gut oder schwer das behandelbar ist.“ Daher habe er gefragt: „Wie lange habe ich jetzt noch?“ Die Ärztin sei überrascht gewesen und meinte: „Sie werden es wohl überleben, auch wenn in der nächsten Zeit einiges auf Sie zukommt!“

Nach der Diagnose habe er seine Frau und seine Eltern angerufen. „Ich wusste auch nicht, was ich weiter sagen soll. Ich war wie ein Ochs vorm Berg.“ Anschließend sei er zur Arbeitsstelle in Villingen zurückgekehrt und habe weiter gearbeitet. „Nach der Diagnose war ich aber erst einmal krankgemeldet“, sagt er.

Bis zur Operation musste Hilser noch ein paar Tage hinter sich bringen. In den tagen habe er auf dem Sofa herumgelegen, sei den Tränen nahe gewesen. „Ich habe mich wie halb unter der Erde gefühlt.“ Vor allem habe er sich aber gefragt: „Warum ich? Was habe ich falsch gemacht?“

Auch Sébastien Haller, Lance Armstrong und DJ Ötzi betroffen

Mit der Diagnose Hodenkrebs war Markus Hilser nicht alleine. Jedes Jahr erkranken mehrere tausend Männer in Deutschland an Hodenkrebs, so das Robert-Koch-Institut.

Zu den Betroffenen gehören auch die drei Bundesligaspieler Sébastien Haller (Borussia Dortmund), Marco Richter (Hertha BSC) und Timo Baumgartl (Union Berlin). Sie machten ihre Diagnosen in den vergangenen Monaten öffentlich.

Fußballprofi Sebastien Haller von Borussia Dortmund – auch er kämpft nun gegen den Hodenkrebs.
Fußballprofi Sebastien Haller von Borussia Dortmund – auch er kämpft nun gegen den Hodenkrebs. | Bild: David Inderlied

Neben diesen Personen wurde Hodenkrebs in der Vergangenheit auch bei dem ehemaligen Fußballer Ebbe Sand (FC Schalke 04), bei Radprofi Lance Armstrong und dem Musiker DJ Ötzi diagnostiziert.

Ursache meist bereits im Mutterleib

„Hodenkrebs ist im Alter von 20 bis 40 Jahren die häufigste Krebserkrankung bei Männern“, erklärt Markus Herbort, Urologe im Medizinischen Versorgungszentrum Konstanz. Leistungssportler seien aber nicht überproportional häufig betroffen.

„Die genetische Voraussetzung liegt bereits in der Embryonalphase vor, das heißt: vor der Geburt im Mutterleib.“ Komme ein Risikofaktor wie der Hodenhochstand hinzu, also wenn ein oder beide Hoden nach der Geburt nicht tastbar seien, steige die Wahrscheinlichkeit für Hodenkrebs. „Je länger ein Krebs unbehandelt ist, desto wahrscheinlicher sind Metastasen“, sagt er.

Markus Herbort, Urologe beim Medizinischen Versorgungszentrum in Konstanz.
Markus Herbort, Urologe beim Medizinischen Versorgungszentrum in Konstanz. | Bild: Cian Hartung

„Die Heilungschancen sind insgesamt, über alle verschiedenen Hodenkrebsarten, gut, auch im metastasiertem Stadium.“ Eine Entfernung des betroffenen Hodens sei jedoch immer notwendig, die Zeugungsfähigkeit sei aber nicht beeinträchtigt, so der Urologe. „Teilweise ist eine zusätzliche Chemotherapie notwendig. Dies wiederum ist ein wichtiger Aspekt bei der Familienplanung und muss berücksichtigt werden“, so der Urologe.

Wie Herbort erzählt, sei eine Krebsdiagnose und eine Hodenentfernung für einen jungen Mann „ein extremer Schritt“ und beeinflusse unter Umständen den Alltag, die Sexualität und das Selbstverständnis als Mann. „Bei der Operation sollte daher immer die Möglichkeit einer Implantation einer Hodenprothese in Erwägung gezogen werden“, sagt Urologe Herbort.

Nach der OP kam der Krebs zurück

Markus Hilser entschied sich nach seiner Operation sowohl gegen eine Hodenprothese als auch gegen eine präventive Chemotherapie. Stattdessen wählte er vierteljährliche Kontrollen. „Die Heilungsraten waren die gleichen.“ Doch im März 2020 stellten Ärzte bei ihm Metastasen in den Lungenflügeln und in der Leiste fest, sodass eine Chemotherapie notwendig wurde.

Markus Hilser im Juni 2020 während seiner Chemotherapie.
Markus Hilser im Juni 2020 während seiner Chemotherapie. | Bild: Markus Hilser

Über drei Zyklen hinweg musste er jeweils 21 Tage lang unterschiedliche Zellgifte per Infusion einnehmen. Gegen die Müdigkeit als Nebenwirkung machte er Gymnastik, gegen den Haarausfall setzte er den Rasierer an. „Als die ersten Haare ausgefallen sind, habe ich nachgeholfen“, erzählt der Schwarzwälder, „damit es dann optisch auch einheitlich ist.“

Zwischen Erleichterung und Wachsamkeit

Nach der erfolgreichen Behandlung muss er jetzt nur noch jährlich zur MRT- und CT-Untersuchung, vierteljährlich lässt er sich beim Urologen kontrollieren. Die Angst vor einer Ausbreitung des Krebses sei aber nicht aus der Welt. „Irgendwo ist das Thema immer präsent.“

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Manchmal vergesse er es, doch sobald im Körper eine Empfindung auftauche, die er nicht einordnen könne, sei der Gedanke an den Hodenkrebs gleich wieder da – ein Spannungsverhältnis „zwischen Erleichterung und Wachsamkeit“, wie er sagt. „Wenn irgendein Schmerz aufgetaucht ist, bei der Untersuchung aber nichts war, kann ich das für mich als unwichtig abspeichern.“

Hilser rät zu Achtsamkeit bei Veränderung in den Hoden

Anderen Männern rät er, bei Auffälligkeiten im Hodenbereich nicht den Gang zum Urologen zu scheuen. „Ich selbst maß der Vergrößerung des einen Hodens zunächst keine Bedeutung zu und hielt sie für eine natürliche Entwicklung.“ Erst durch die Diagnose sei ihm der Zusammenhang bewusst geworden.

Markus Hilser in Villingen im August 2022.
Markus Hilser in Villingen im August 2022. | Bild: Cian Hartung

Außerdem könnten Angehörige dabei helfen, den Überblick zu behalten: Wie informiere ich die Krankenkasse? Weiß mein Arbeitgeber von meiner Situation? Habe ich alle Belege der Untersuchungen gesammelt? Wie kann ich Reha-Maßnahmen beantragen? Generell kann Hilser Betroffenen Mut zusprechen: „Es sieht eigentlich recht gut aus. Je früher es erkannt wird, desto besser.“