Herr Fallert, jahrelang hat sich kaum jemand für die Reservisten interessiert, aber jetzt ist alles anders, oder?
So sieht‘s aus. Presseanfragen sind derzeit auf einem Allzeithoch. Begonnen hat das mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine.
Wie viele Leute sind das in Baden-Württemberg? Und wie sind Sie dazu gekommen?
Wir haben als Landesgruppe etwas mehr als 10.000 Mitglieder. Reservist ist man, wenn man bei der Bundeswehr gedient hat, auch wenn man nur einen Tag dabei war. Das bleibt man, bis man stirbt. Ich bin mit Ende meiner Wehrdienstzeit 1989 dazugekommen. Seitdem betätige ich mich ehrenamtlich. Es sind aber nicht alle Reservisten bei uns Mitglied.

Was macht man als Reservist?
Das hat sich im Laufe der Zeit verändert. Als die Wehrpflicht ausgesetzt und die Bundeswehr zur Berufsarmee wurde, haben wir uns schon gefragt, wozu wir jetzt eigentlich noch da sind. Reservisten werden gebraucht, damit die Armee im Bedrohungsfall aufwachsen kann. Die Bedrohung wurde dann aber immer unwahrscheinlicher.
Wir haben trotzdem versucht, das Ausbildungsniveau unserer Mitglieder auf dem Niveau der Grundausbildung aufrecht zu erhalten, also Sanitätsausbildung, ABC-Ausbildung, Marsch, Sport, Schießen. Dinge, die Soldaten halt so tun. So dass man im Notfall ein Potenzial hätte, auf das man zurückgreifen kann. Viele haben offenbar vergessen, dass die Wehrpflicht immer noch im Grundgesetz steht – allerdings nur für junge Männer.
Wenn Sie die Wehrpflicht wieder einführen könnten, wie Sie wollten, wie würden Sie es dann machen?
Mein Wunsch wäre die Änderung der Wehrpflicht in eine Dienstpflicht. Das ist allerdings rechtlich umstritten. Eine Dienstpflicht, in der man, ob Mann oder Frau, sich ab 18 entscheiden muss, was man für eine gewisse Zeit für Deutschland tun will – ob Feuerwehr, THW, Umweltschutz, soziale Dienste oder Bundeswehr.
Das wäre dann halt nicht ein Jahr Work and Travel, sondern ein Jahr für die Gesellschaft. Aber ich glaube nicht, dass daraus etwas wird, denn dafür bräuchte es eine Grundgesetzänderung.
Schon eher könnte man eine Kontingentwehrpflicht einführen, wie sie Schweden hat. Das heißt, ich berufe zum Beispiel 20.000 pro Jahr ein. Die Schweden machen das so attraktiv, dass am Ende eine Bestenauslese möglich ist. Attraktiv wäre es auch zum Beispiel den Lkw- oder Motorrad-Führerschein machen zu können oder Vergünstigungen beim Numerus Clausus anzubieten.
Das wäre für mich die sinnvollste aller Varianten – auf Basis der alten Wehrpflicht, aber so gestaltet, dass einem die Leute am besten die Tür einrennen. Da hat die Politik noch etwas zu tun.
Junge Leute finden die Rückkehr der Wehrpflicht nicht so toll. Insgesamt liegt die Bereitschaft der Deutschen, ihr Land zu verteidigen, bei 17 Prozent.
Das wären dann auch 14 Millionen – eigentlich richtig viel.
Gäbe es nicht auch einen Weg, Ältere mit reinzunehmen in die Wehrpflicht?
Da gebe ich mal frei wieder, was der ehemalige Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels kürzlich gesagt hat: Wir können das nun noch fünf Jahre weiter diskutieren, was man alles machen könnte. Aber es wird nicht kommen – und er hat Recht. Auch dafür bräuchte es eine Grundgesetzänderung.
Ich bin inzwischen müde zu diskutieren. Dänemark hat die Wehrpflicht für Frauen eingeführt – die machen es und wir diskutieren. Mal ehrlich: Ich wollte auch nicht zur Bundeswehr.
Sie wollten nicht zur Bundeswehr?
Wenn Sie mich gefragt hätten mit 18 – hätte ich darauf auch keine Lust gehabt. Aber mich hat keiner gefragt, ich musste mich entscheiden zwischen Ersatzdienst und Wehrdienst. Die meisten Jungs sagen doch da „Nein“.
Aber hat es Ihnen geschadet?
Es war für mich eine gute Zeit. Ich habe viel über mich selbst gelernt und Vorurteile abgebaut. Dafür bin auch dankbar. Aber ich musste mich entscheiden, ich bin keinem böse, der das nicht freiwillig macht.
Sie haben vorhin erwähnt, was Sie im Reservistenverband tun, um das Wissen der Grundausbildung beizubehalten. Aber braucht man diese Fähigkeiten in der heutigen Zeit überhaupt noch?
Das Thema Drohnen – das ist etwas, was man früher nicht kannte. Aber man braucht trotzdem bestimmte soldatische Grundfertigkeiten. Man muss wissen, wie man sich in einem Gefecht zu verhalten hat, um sich oder die links und rechts von einem nicht zu gefährden. Wie versorge ich Wunden, wie verhalte ich mich bei Gefahrstoffen, wie schieße ich auf Entfernungen – das sind Fertigkeiten, die man auch im modernen Krieg noch braucht.
Es heißt zwar oft, die Zeit der Massenarmee sei vorbei, man bräuchte nur noch Spezialisten. Das entspricht überhaupt nicht meiner Wahrnehmung. In der Ukraine sehen wir beides: Hightech und gleichzeitig den Grabenkampf brutalster Art. Krieg ist furchtbar und trotz neuer Technik braucht es, wie die Amerikaner sagen, „boots on the ground“ – also auch viele Gewehrträger.
Wie viele deutsche Soldaten würden im Nato-Bündnisfall denn gebraucht? Und haben wir die?
Nein, unsere Armee wurde zur Einsatzarmee zurechtgestutzt. Der Fokus liegt heute wieder auf Landes- und Bündnisverteidigung. Dafür ist die aktuelle Bundeswehr zu klein. Wir haben grob 181.000 Soldaten, sollten aber 203.000 haben. Egal wie viele Werbeaktionen gemacht werden, wir kommen darüber einfach nicht hinaus. Aktive Reservisten haben wir ungefähr 40.000, bei 60.000 vorhandenen Dienstposten.
Wir brauchen aber für die Verteidigung der Nato-Ostflanke, nachdem was man aus der Nato hört, eher 250.000 Soldaten in der aktiven Truppe. Wo sollen die 70.000 herkommen? Es scheiden zu viele aus, da muss man auch nach den Gründen fragen.
Woran hapert es?
Ganz ehrlich, das Schlimmste ist, wenn die Bundeswehr gut ausgebildete Menschen vergrault. Ich kenne einige Fälle, wo den Leuten einfach keine Perspektive geboten wurde. Es gibt auch den Panzerfahrer, der keinen Panzer mehr hat und dann irgendwann lieber kündigt. Über 20.000 Menschen pro Jahr verlassen die Bundeswehr aus verschiedensten Gründen. Aber es kommen halt auch nicht genug nach.

In der aktuellen Lage ist der Beruf in der eigenen Risikoabwägung auch nicht attraktiver geworden. Wie schätzen Sie das Risiko ein, dass Russland angreift? Was ist das Worst-Case-Szenario?
Das wäre, dass Russland so weit aufrüstet, um sich neben der Ukraine einen weiteren Kriegsschauplatz leisten zu können, oder der Konflikt dort wird eingefroren und dann kann man Kräfte verlagern.
Wir müssen uns fragen: Warum rüstet Russland auf? Es gibt Informationen der westlichen Geheimdienste, die besagen, dass Russland in drei Monaten mehr Granaten und Panzer produziert als die ganze EU in einem Jahr. Sie produzieren mehr als sie verbrauchen. In der Ukraine wird altes Militärgerät, zum Teil aus dem zweiten Weltkrieg, verbraucht. Gleichzeitig werden die Depots mit neuem Gerät und Munition gefüllt.
Was macht das mit den Reservisten? Die haben ja auch Zeit ihres Lebens im Frieden gelebt. Wie ist da die Stimmung?
Wir wünschen uns alle Frieden, aber so wie Putin agiert, so wie die USA aktuell agieren, mache ich mir schon Sorgen. Ich halte es für denkbar, dass wir in einen Krieg verwickelt werden, weil wir nicht anders können.
Dass Russland in Deutschland einmarschiert, halte ich für unwahrscheinlich. Das Szenario ist eher, dass Russland den Zusammenhalt der Nato testet, indem sie zum Beispiel in einer Grenzregion in Litauen einmarschieren, weil dort angeblich die russische Minderheit unterdrückt wird.
Dann muss sich die Nato entscheiden, ob es uns 50 Quadratkilometer in Litauen wert sind, dass wir da selbst eingreifen. Dann kommt es zum Nato-Bündnisfall, oder die Nato löst sich selbst auf.
Das sind ganz verschiedene Gefühle, die die Kameraden haben – je nach Alter. Ich bin ja noch im Kalten Krieg aufgewachsen, daran fühle ich mich oft erinnert. Und ich fühle mich auch bestätigt, weil ich immer irgendwie gedacht habe, dass diese Situation zurückkommen könnte.
Könnten die Reservisten die fehlenden 70.000 aktiven Soldaten, die es für den Bündnisfall braucht, wettmachen?
Nein, denn die stehen ja auch meist in einem zivilen Berufsleben. Ein geringer Teil macht das heute schon. Die Bundeswehr lebt auch heute schon von der Reserve, weil beispielsweise Dienstposten nicht mit Aktiven besetzt werden können.
Etwa 5000 Reservisten tun jeden Tag Dienst in der Bundeswehr. Manche nur für einen Tag, andere für ein paar Wochen oder sogar zehn Monate am Stück – das ist die Maximaldauer. Da sind aber auch altersbedingt nicht alle voll verwendungsfähig.
Sind Sie in den Operationsplan Deutschland eingeweiht?
Das Territoriale Führungskommando, das den Plan ausgearbeitet hat, ist dem Landeskommando in Stuttgart übergeordnet, in dem auch ich einen Dienstposten habe. Ich habe neben meinem Ehrenamt auch einen Dienstposten bei der Bundeswehr als Leiter des Bezirksverbindungskommandos in Karlsruhe. In der Funktion bin ich der militärische Berater der Regierungspräsidentin. Mein Kommandeur berät den Ministerpräsidenten.
Der Befehlshaber des Territoriale Führungskommandos ist Generalleutnant Bodemann, der für den Operationsplan Deutschland verantwortlich ist. In dieser Befehlsachse befinde ich mich. Ich weiß von diesem geheimen Plan aber auch nur das, was allgemein bekannt ist.
Was steht da für Deutschland an?
Eine Verteidigungsplanung gab es zuletzt im Kalten Krieg. Damals war die ganze Grenze zur ehemaligen DDR in Sektoren aufgeteilt. Da war klar, wer da sichert, wenn ein Angriff kommt. Deutschland ist jetzt kein Fronstaat mehr, das wäre heute eher Polen.
Wir wären die Drehscheibe: Truppen müssen durch Deutschland durch und defektes Gerät, aber auch Tote und Verletzte müssen wieder zurück und bei uns versorgt werden. Das ist eine ganz andere Planung.
Wie weit ist das schon gediehen?
Innerhalb der Bundeswehr wird das Jahr 2029 als das angenommen, in dem man bereit sein muss. Unabhängig davon muss man sich vorbereiten. Im vergangenen Jahr zum Beispiel hat die Nato eine große Verlegeübung durchgeführt. Dabei hat man auf allen Verkehrswegen Personal und Militärgerät transportiert und dabei Erfahrungen gesammelt, welche Probleme bei einer Truppenverlegung an die Ostflanke der Nato existieren.
Die Erfahrung muss man machen und dabei identifizieren, wo es Verbesserungspotenzial gibt. Auf der militärischen Ebene kann man vieles tun, aber ohne die zivile Seite wird das nichts. Am Schluss muss man die ganze Gesellschaft mitnehmen. Es geht darum, dass jeder Landrat, jeder Regierungspräsident, jede Bürgermeisterin weiß, worauf sie sich einstellen müssen, was sie tun müssen.

Haben die Landräte, aber auch das THW und das Rotes Kreuz denn schon Aufgaben?
Es gibt Arbeitsgruppen, aber da liegt es nicht an der Bundeswehr, das zu beschleunigen. Da müssen sich die Länder, die Kreise und die Kommunen bewegen. Wir sind da in einem Zwischenstadium: Manche machen schon richtig viel, andere haben noch nicht mal vom Operationsplan gehört.
Rechtlich gibt es ja nur Null oder Eins – Frieden oder Krieg. Aber wir sind jetzt schon in einem Zustand, der ist nicht mehr ganz friedlich. In diesem Zwischenstadium ist es schwierig für Kommunen, Vorbereitungen zu treffen, die am Ende Geld kosten.
Gerade läuft eine Krankenhausreform, die am Schluss zur Folge hat, dass viele Krankenhäuser geschlossen werden. Wie soll das funktionieren, wenn wir irgendwann viele verwundete Soldaten versorgen müssten? Wir sind am Beginn des Weges, aber da ist noch sehr viel zu tun.
In diesem Zwischenstadium gibt es auch keinen Einsatzbefehl. Wie ist das bei ehrenamtlichen Feuerwehrleuten und THWlern, die für Vorbereitungsarbeiten gebraucht werden, aber eigentlich ihrem normalen Beruf nachgehen?
Bei den Blaulichtorganisationen ist das besser geregelt als bei den Reservisten. Da greifen oft jeweilige Gesetze der Bundesländer. Bei der Reserve der Bundeswehr ist das alles freiwillig, weil man mit der Aussetzung der Wehrpflicht auch den verpflichtenden Reservedienst ausgesetzt hat.
Viele sagen: Ich würde mich gerne einbringen, aber mein Chef lässt mich nicht gehen. Hier bin ich dafür, dass beispielsweise zwei Wochen Reservistendienst im Jahr verpflichtend sind und eine verpflichtende Freistellung gesetzlich geregelt wird.
Wann wird die Öffentlichkeit die Vorbereitung des O-Plans mitkriegen?
Wenn es die Bevölkerung direkt betrifft und zum Beispiel ein Gemeinderat Dinge beschließen muss. Dabei gibt es Gemeinden, die weniger betroffen sein werden, höchstens in der Frage: Wo kann ich Flüchtlinge unterbringen? Aber es gibt Städte, die werden massiv betroffen sein, weil sie an den Hauptachsen des O-Plans liegen.
Was bedeutet dieses Szenario für die Zivilisten?
Jeder sollte sich vorbereiten: Das bedeutet nicht, dass man zum Prepper wird, aber es sollte sich jeder mal mit ein paar Fragen befassen: zum Beispiel wie viel Bargeld und Wasser habe ich zuhause und ist eine Notstromversorgung sinnvoll. Das wären wichtige Überlegungen auf dem Weg zu einer resilienten Gesellschaft.