Angela Merkel kann froh sein, dass sie nicht die Vorsitzende der SPD ist. Verlorene Landtagswahlen, Umfragen weit unter dem Ergebnis der letzten Bundestagswahl, dazu der Kniefall vor dem Koalitionspartner bei der Suche nach dem neuen Bundespräsidenten: Es gehört nicht viel Fantasie dazu, um sich auszumalen, wie die Sozialdemokraten in einer solchen Situation reagieren würden. Sigmar Gabriel hätte danach sicher mehr Zeit für seine Familie.
Dass Angela Merkel vor dem Parteitag der CDU in dieser Woche unverändert fest im Sattel sitzt, hat vor allem einen Grund. Sie ist die Kanzlerin – und damit für weite Teile ihrer Partei sakrosankt. Anders als die SPD, die sich mit destruktiver Lust regelmäßig selbst zerfleischt, igelt die CDU sich in schwierigen Phasen ein. Vor einem Jahr, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, feierten die Delegierten ihre Anführerin in Karlsruhe mit demonstrativem Trotz – obwohl viele Christdemokraten entsetzt waren über ihre Politik der offenen Tür. Am Ende aber zählte nur eines: Loyalität. Auch die größten Nörgler applaudierten ihr damals im Stehen.
Unter Helmut Kohl wurde die CDU gerne als Kanzlerwahlverein verspottet. Angela Merkels Art, die Partei zu führen, ist subtiler, aber nicht minder effizient. Nachdem sie sich entschieden hat, noch ein viertes Mal als Spitzenkandidatin in eine Wahl zu ziehen, wird der Parteitag in Essen, der heute Abend in Essen beginnt, sie nun auch mit einem guten Ergebnis als Vorsitzende bestätigen. Große Konflikte befürchtet die CDU-Spitze nicht, dDie Personalfragen sind weitgehend geklärt. Aber an irgendeiner Stelle entlädt sich erfahrungsgemäß bei solchen Kongressen der Unmut – der partiell immer vorhanden ist, erst recht nach einem für die CDU so harten Jahr mit der Flüchtlingskrise und dem Rechtsruck in Europa.
Doch Dampf abgelassen hat die Basis bereits bei einer Reihe von Regionalkonferenzen wie zuletzt in Jena, wo die beiden Welten der CDU so ungehindert wie lange nicht mehr aufeinander prallten: Hier Angela Merkel, die lächelnd mit einem Flüchtling posiert – dort aufgebrachte Konservative, die sie zum Rücktritt auffordern. Dazwischen liegt viel Unausgesprochenes, viel Unverstandenes, viel Unerklärtes auch. Bis heute rätseln selbst ihr wohlgesonnene Parteifreunde, wie es zu dieser einzigartigen Metamorphose kommen konnte, wie aus der pragmatisch-trockenen, immer ein wenig zu zögerlichen Angela Merkel über Nacht die Frau wurde, die buchstäblich keine Grenzen mehr kennt.
Neun Monate vor der Bundestagswahl bewegt die Kanzlerin sich auf dünnem Eis. Attentate wie die von Würzburg und Ansbach oder der Mord an einer Freiburger Studentin, begangen offenbar von einem 17-jährigem afghanischen Flüchtling, sind Wasser auf die Mühlen ihrer Kritiker. In den Umfragen ist die Union trotz deutlicher Einbußen zwar noch immer die mit Abstand stärkste politische Kraft – aber ist auf solche Zahlen überhaupt noch Verlass? Ist der Wahlkampf, so groß der Vorsprung von CDU und CSU auch sein mag, nicht eine Reise ins Ungewisse, an deren Ende vielleicht eine rot-rot-grüne Allianz die Staatsgeschäfte übernimmt und die CDU noch ausgelaugter und noch kaputter dasteht als nach Kohls Niederlage 1998? Wie ihr einstiger Mentor hat auch Angela Merkel es versäumt, Vorsorge für den Tag danach zu treffen. Den Tag nach ihr.
Die Bedingungslosigkeit, mit der die CDU sich ihren Vorsitzenden unterwirft, war lange Zeit ein Wettbewerbsvorteil – nichts nervt den Wähler mehr als Parteien, die sich nur mit sich selbst beschäftigen. Mittlerweile jedoch verkehrt sich dieser Effekt ins Gegenteil: Menschen, die sich selbst als konservativ oder bürgerlich bezeichnen würden, fühlen sich von der CDU nicht mehr vertreten, sie wählen sie nicht mehr um ihrer selbst willen, sondern wenden sich von ihr ab und schielen weiter nach rechts. Tatsächlich ist es nicht der örtliche Abgeordnete, mit dem sie hadern, oder das Programm der CDU – es ist Angela Merkel selbst.
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