Es ist kurz vor neun Uhr am Freitagabend im osttürkischen Elazig. Viele Bewohner der Provinzhauptstadt im Osten der Türkei sind beim Einkaufen oder in Cafés und Restaurants. Plötzlich stürmen alle in heller Panik nach draußen in die Winterkälte: Ein Erdstoß der Stärke 6,6 erschüttert die Gegend um die Stadt mit mehr als 400 000 Einwohnern. Auf den Straßen sammeln sich verängstigte Menschen, die Sirenen der Rettungsfahrzeuge heulen. Mehrere Gebäude sind in sich zusammengestürzt.

Präsident Recep Tayyip Erdogan trägt den Sarg eines der Erdbebenopfer mit.
Präsident Recep Tayyip Erdogan trägt den Sarg eines der Erdbebenopfer mit. | Bild: Uncredited

Suche nach Überlebenden

Bis zum Sonntag haben die Bergungsteams 35 Todesopfer aus den Trümmern in der Gegend rund 500 Kilometer östlich der Hauptstadt Ankara gezogen, mehr als 1600 Menschen werden wegen Verletzungen behandelt. Teams des türkischen Katastrophenschutzamtes AFAD und freiwillige Helfer suchen mit Baggern, Bohrern und teilweise mit den bloßen Händen in eingestürzten Häusern nach Überlebenden.

Einen Erfolg konnten sie feiern: Sie retteten eine 35-jährige Frau und ihr kleines Kind. Bei Nachttemperaturen von etwa sieben Grad unter Null sinken die Überlebenschancen für eingeschlossene Opfer unter den Betontrümmern der Häuser jedoch rapide.

Naci Görür hat das alles kommen sehen. Der 72-jährige Geologe von der Technischen Istanbul hatte in den vergangenen Monaten die Behörden und Bewohner seiner Heimatregion vor einem schweren Beben gewarnt. Görür informierte die Regionalverwaltungen und die Armee. Niemand hörte ihm zu.

Epizentrum auf tektonischer Bruchlinie

„Es ist so gut wie nichts getan worden“, sagte Görür nach dem Beben mit dem Epizentrum in der Kleinstadt Sivrice südlich von Elazig. Im Nachrichtensender CNN-Türk hatte der Wissenschaftler im Oktober ausdrücklich Sivrice als ein mögliches Zentrum eines schweren Erdbebens genannt.Auch jetzt, nach dem Ausbruch, ist die Gefahr laut Görür längst nicht gebannt: Besonders die Gegenden östlich von Elazig in Richtung Bingöl und in südwestlicher Richtung nahe Malatya seien gefährdet, sagt er. Diese Städte liegen auf der Ostanatolischen Verwerfungslinie, die in Bewegung geraten sei.

Polemische Reaktion

Noch ist Zeit, sich auf neue Beben vorzubereiten. Doch die Erfahrung im Erdbeben-Land Türkei zeigt, dass die Gefahren ignoriert werden. Präsident Recep Tayyip Erdogan warf Kritikern vor, das Unglück für billige tagespolitische Polemik zu missbrauchen. In den sozialen Medien werde seine Regierung gefragt, was sie in den zwei Jahrzehnten seit ihrem Machtantritt gegen Erdbeben getan habe, sagte der Präsident und beantwortete die Kritik mit einer Gegenfrage: „Können wir Erdbeben etwa aufhalten?“

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Mindestens zwei Nutzer sozialer Medien wurden seit dem Beben festgenommen, weil sie mit falschen Behauptungen „Panik und Furcht“ verbreitet haben sollen, wie die Staatsanwaltschaft sagt. Dabei ist Furcht angesichts der Zustände im Land durchaus angebracht, meint etwa die Vereinigung der türkischen Geo-Ingenieure. Nicht Erdbeben seien tödlich, sondern schlecht gebaute Häuser, erklärte der Verband.

Istanbul ist gefährdet

All das sollte den türkischen Politikern nicht neu sein. Beim schweren Erdbeben der Stärke 7,4 südlich von Istanbul im August 1999 starben mindestens 17 000 Menschen. Forscher wie Görür halten in der 16-Millionen-Stadt jederzeit eine weitere Katastrophe für möglich – und alle sind sich einig, dass die Metropole schlecht auf ein solches Ereignis vorbereitet ist.