Was passiert, wenn abgelehnte Asylbewerber in der Schweiz wenige hundert Meter von der Grenze zu Deutschland auf ihre Abschiebung warten? Der Konstanzer Landrat Frank Hämmerle fürchtet jedenfalls eine massive Zunahme von illegaler Migration.
Neues Bundesasylzentrum in Kreuzlingen
"Nach den Erfahrungen aus dem Schweizer Ausreisezentrum Embrach ist zu erwarten, dass circa 60 Prozent der Ausreisepflichtigen verschwinden werden", teilt er Mitte März mit. Anfang März eröffneten die Eidgenossen ein neues Bundesasylzentrum in Kreuzlingen, einen Steinwurf von der deutschen Grenze entfernt.
Das "BAZ" Kreuzlingen ist ein sogenanntes Bundesasylzentrum ohne Verfahrensfunktion, kurz BAZoV. Darin werden Asylsuchende untergebracht, die auf ihre Abschiebung warten – entweder, weil sie zurück in ihre Heimat geschickt werden sollen, oder weil ein EU-Staat für den Asylantrag zuständig ist.
Die Schweiz gehört zwar nicht zur EU, aber zum Schengenraum und hat die sogenannte Dublin-Verordnung unterzeichnet. Diese regelt, dass der Staat, über den der Asylsuchende zuerst in die EU gereist ist, zuständig ist.
Ist das Zentrum absichtlich so nah an der deutschen Grenze entstanden?
Zwischen den Zeilen unterstellt der Landrat den Eidgenossen, das Zentrum sei absichtlich an der deutschen Grenze entstanden. Zumindest fragt er sich, warum die Zentren nicht in der Nähe von Flughäfen gebaut wurden, von wo aus die meisten der ausreisepflichtigen Asylsuchenden abgeschoben werden.
"Ich gehe auf dieser Grundlage davon aus, dass sich der Großteil der Bewohner des Kreuzlinger Ausreisezentrums der Abschiebung aus der Schweiz entziehen wird, indem sie die fußläufig zu erreichende Grenze nutzen."

Dagegen verwehrt sich das Schweizer Staatssekretariat für Migration (SEM). Zwar sei es zwischen 2014 und 2018, als das neue System unter anderem in Embrach getestet wurde, zu 1788 unkontrollierten Ausreisen gekommen.
Asylregion Ostschweiz
Allerdings sei es "einzig im BAZ Embrach und nur in einzelnen Phasen" zu unkontrollierten Abreisen von bis zu 60 Prozent gekommen, erklärt Sprecherin Katrin Schmitter auf Anfrage des SÜDKURIER: "Gemäß unseren Erfahrungswerten taucht durchschnittlich etwa ein Drittel der Asylsuchenden unter."
In den vergangenen Monaten habe der Anteil in der Asylregion Ostschweiz dagegen bei etwa zehn Prozent gelegen, sagte die Sprecherin weiter.
Mit "unkontrollierten Abreisen aus dem Asylverfahren und daraus folgend die irreguläre Weiterwanderung von Asylsuchenden innerhalb Europas" seien dagegen alle Asylzentren in der Schweiz und der europäischen Länder "seit jeher konfrontiert", betonte sie.
Seit die Zentren im März in der gesamten Schweiz in Betrieb gegangen sind, registrierte das SEM nach eigenen Angaben 660 Austritte – "davon 117 mit unbekanntem Aufenthalt". Dabei sind die Zentren ohne Verfahrensfunktion derzeit durchschnittlich nur zu etwa einem Viertel belegt (24 Prozent), in der Ostschweiz und dem Kanton Zürich liegt der Schnitt etwas höher bei jeweils 30 beziehungsweise 33 Prozent.

Tatsächlich sind die Zahlen nach Angaben der Bundespolizei in den vergangenen Jahren sogar zurückgegangen.
Wie intensiv wird kontrolliert?
Griffen die Bundesbeamten 2016 noch 7652 Menschen bei der unerlaubten Einreise auf, waren es 2017 nur noch 5551, im vergangenen Jahr belief sich die Zahl der illegalen Migranten auf 4062. Das beruhigt Landrat Hämmerle allerdings nicht. Er argumentiert: "Eines ist klar: Menschen, die illegal die Grenzen übertreten, zu erfassen und in Statistik zu bringen, hängt davon ab, wie intensiv man kontrolliert. Das ist wie bei der Rauschgiftkriminalität. Wenn man nicht sucht, dann hat man auch keine Drogenfunde."
Auf Anfrage wollte die Bundespolizei allerdings keine Angaben machen, wie häufig sie kontrolliert – "aus einsatztaktischen Gründen".
Das Landesinnenministerium gab auf Anfrage zunächst an: "Derzeit sind wir hinsichtlich des Bundesasylzentrums in Kreuzlingen nicht alarmiert." Dennoch werde das Ministerium die Lage an der deutsch-schweizerischen Grenze "aufmerksam im Blick behalten".
Strobl wendet sich an Seehofer
Doch nur wenige Tage später wandte sich Innenminister Thomas Strobl an Bundesinnenminister Horst Seehofer. In dem Schreiben, das dem SÜDKURIER vorliegt, sprach er von der Furcht vieler Lokalpolitiker, "dass sich die dort untergebrachten Personen einer Rückführung aus der Schweiz entziehen" könnten, indem sie sich nach Deutschland absetzten. Die Bundespolizei müsse daher personell verstärkt werden, um "ohne zeitlichen Verzug auf diese neue Lage reagieren" zu können.

Systematische Kontrollen an der Schweizer Grenze sind wegen der offenen Grenzen im Schengenraum nicht zulässig. Die Bundespolizei gab jedoch an, "insbesondere nichtsystematische, lageangepasste, stichprobenartige Kontrollen im Rahmen der Binnengrenzfahndung" vorzunehmen. Deutsche und Schweizer Behörden arbeiten über einen gemeinsamen Aktionsplan ohnehin eng zusammen, sowohl bei der Polizei als auch migrationspolitisch.
Darin heißt es allerdings: "Asylsuchende, die an der Südgrenze zu Italien aufgegriffen werden, werden prioritär in Zentren gebracht, welche sich weniger nah zur deutschen Grenze befinden." Tatsächlich befinden sich einige der BAZoV in Grenznähe, wie in Embrach im Kanton Zürich, in Kreuzlingen und in Vallorbe. Kappelen und Giffers liegen dagegen im Inland.
Migration und Grenzschutz
- Das neue Schweizer Asylsystem: Die Schweiz hat ihr Asylsystem reformiert. Seit 1. März werden die Asylverfahren in sogenannten Bundesasylzentren mit Verfahrensfunktion (BAZmV) durchgeführt. In sechs Regionen gibt es jeweils ein BAZmV, in dem die Asylsuchenden während des gesamten Verfahrens bleiben. Alle beteiligten Behörden sind dort vertreten: So wollen die Eidgenossen beschleunigte Prüfungen der Anträge ermöglichen. Sie sollen innerhalb von 140 Tagen abgeschlossen sein. In den Bundesasylzentren ohne Verfahrensfunktion (BAZoV) werden Menschen untergebracht, für die nach der Dublin-Verordnung der EU ein anderer europäischer Staat zuständig ist oder deren Asylgesuch bereits abgelehnt wurde. In besonderen Zentren werden Menschen untergebracht, die die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden könnten.
- Grenzschutz: Die Bundespolizei darf wegen des Schengenabkommens keine permanenten Kontrollen einrichten. Diese sind nur vorrübergehend und in Ausnahmesituationen erlaubt. Die Bundespolizei führt daher vor allem stichprobenartige Kontrollen, sogenannte Schleierfahndung durch. Zudem kontrolliert die Gemeinsame Operative Dienstgruppe (GOD) Bodensee, zu der deutsche Bundespolizisten und Mitarbeiter der Eidgenössischen Zollverwaltung (Schweizer Grenzwachtkorps) gehören, auf beiden Seiten des Grenzverlaufs. (mim)