Angelika Baltzer schaut durch die Seitenscheiben der Stadthalle Rottweil nach draußen. Es ist spät am Abend, die Demonstranten vom Parkplatz gegenüber und die Besucher der AfD-Veranstaltung in der Stadthalle sind schon größtenteils gegangen. „Nazis raus“ ist da drüben auf einem Plakat aber immer noch zu lesen. Wie sie das findet? Das mache sie fassungslos, sagt die grauhaarige Dame aus Reutlingen, „wir sind doch keine Nazis. Das ist doch völlig absurd.“

Baltzer und ihre Schwester Sybille Schmiedel aus Villingen-Schwenningen sind zwei von rund 1000 Besuchern, die am Donnerstag zum „Rottweiler Dialog“ gekommen waren, einer Veranstaltung des AfD-Kreisverbands Rottweil-Tuttlingen zu Europa, Nationalstaat und Föderalismus im Vorgriff auf die Europawahlen 2024. Der Andrang war enorm, die Stuhlreihen wurden bis an die Grenze des Erlaubten nachgerüstet.
Gastgeber Emil Sänze, Landtagsabgeordneter und Co-Landesvorsitzender, wartete mit den prominentesten Namen auf, die der völkische Flügel der Partei zu bieten hat. An vorderster Stelle Björn Höcke, thüringischer Landesvorsitzende, und der Bundesvorsitzende Tino Chrupalla. Auch die frühere Landtags- und heutige Bundestagsabgeordnete und Höcke-Vertraute Christina Baum war zu Gast. Den Europapart übernahmen der AfD-Europaabgeordnete Maximilian Krah und der Bonner Musik- und Sozialwissenschaftler Hans Neuhoff.
Rottweil, Ort des Widerstands
Rottweil war gezielt gewählt für diesen Aufschlag. Die Stadt war im Südwesten eines der Widerstandszentren gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen, die AfD vor Ort ist stark, Krah lobte „gesunde, stolze, verwurzelte Rottweiler Bürger“. Der Anteil der damaligen „Spaziergänger“-Demonstranten unter dem Saalpublikum war wohl groß, gemessen am Jubel, der auf einen passenden Video-Einspieler zum Auftakt des Abends aufbrandete. Der Film endete mit einer unmissverständlichen Botschaft: „Wir können alles. Auch Regierung.“
„Die Welle schwappt von Ost nach West, und man bekommt uns nicht mehr weg!“Tino Chrupalla, AfD-Bundessprecher
Darum ging es eigentlich an diesem Abend. Um den Weg der AfD zur Macht, um die Übernahme von AfD-Regierungsverantwortung in Kommunen, Bund und Ländern – als selbsterklärte einzige und wahre Vertretung des deutschen Volkes, das an diesem Abend unzählige Male herhalten musste als stumme Geisel der AfD. Denn der für die Rechtspartei bislang größte Triumph in Deutschland, die Wahl des bundesweit ersten AfD-Politikers zum Landrat im thüringischen Sonneberg, direkt gewählt vom Volk mit 53,8 Prozent der Stimmen, war gerade mal vier Tage her. Und das Adrenalin von diesem für die Partei berauschenden Wahlergebnis pulste in Rottweil noch durch die Adern der Parteigranden. Das hörte sich so an: „Der Geist ist aus der Flasche, der geht auch nicht mehr zurück“, so Parteichef Chrupalla, „wir werden dieses Land umkrempeln! Die Welle schwappt von Ost nach West, und man bekommt uns nicht mehr weg!“
Chrupalla sprach viele Sorgen und Ängste an, die die Menschen im Saal umtreiben. Niedergang der Autoindustrie, Verteufelung der individuellen Mobilität mit dem Auto, Wegfall von Arbeitsplätzen, Abwanderung von Unternehmen, steigende Energiepreise und Abgabenlast in den Sozialversicherungen, Verfall des Gesundheitswesens, schleichende Enteignung von Hausbesitzern durch Heizungstauschchaos, Überforderung der Sozialsysteme durch Flüchtlinge und Migranten, Regelungswahn der EU, Ausverkauf des Nationalstaats, Aushöhlung der traditionellen deutschen christlichen Werte- und Kulturgemeinschaft – und das Versagen aller anderen Parteien dabei, den Menschen Antworten zu geben.
Für Chrupalla ist das Feindbild klar
Feindbild Nummer eins für Chrupalla: CDU-Chef Friedrich Merz und sein Diktum von der Brandmauer gegen die AfD, das jede Zusammenarbeit mit den Rechten ausschließt. „Merz ist für uns das größte Hindernis im Osten, Regierungsverantwortung zu übernehmen“, so der AfD-Parteichef und skizzierte den Weg zu Macht: „Wir wissen, wie Mauern eingerissen werden. Und wenn 30 Prozent bei den Wahlen nicht reichen, dann müssen es eben über 50 Prozent werden. Wir müssen nur Geduld haben“, so Chrupalla, „es wird der Tag kommen. Und wir sind vorbereitet. Unser Alleinstellungsmerkmal ist, dass wir Politik für Deutschland, für die Bürger machen. Das unterscheidet uns von diesen ganzen vaterlandslosen Gesellen, die wir hier haben.“
Der Traum vom Regieren wird greifbar
Diesem Tag sieht auch Björn Höcke entgegen, umstrittenste und populärste Figur der AfD. Er wurde in Rottweil von Sänze unter dem Jubel des Publikums als kommender Ministerpräsident von Thüringen begrüßt, ein kein gänzlich abwegiges Szenario: In Thüringen wird, wie auch in Sachsen und Brandenburg, 2024 ein neuer Landtag gewählt. In der jüngsten Insa-Wahlumfrage von Ende Mai liegt die AfD in Thüringen mit 30 Prozent als stärkste Kraft vorn und deutlich vor den Linken mit 25 Prozent. „40, 42 Prozent sind drin, damit hat die CDU auch schon allein regiert“, übertönte Höcke die Begeisterung, die ihm in Rottweil entgegenbrandete.

Der 51-Jährige, mit der Thüringer AfD vor zwei Jahren vom Verfassungsschutz als „offen rechtsextremistisch“ eingestuft, beschwor „tolle Tage in Thüringen“, sprach von einem „Befreiungsimpuls“ von Sonneberg, der sich durch ganz Deutschland fortpflanze. Den thüringischen Verfassungsschutzpräsidenten Stephan Kramer, der die Wahl in Sonneberg als Alarmsignal bezeichnet und von 20 Prozent braunem Bodensatz in Deutschland gesprochen hatte, nannte Höcke dagegen „linksextremistisch“ und verkündete, er habe Kramer „wegen Volksverhetzung angezeigt.
Womit Höcke am meisten begeistert
Es sind Sätze wie diese, die in Rottweil besonders bejubelt wurden: „Wir dürfen uns von diesem Hass und dieser Hetze nicht auskübeln lassen. Wir holen uns unser Land zurück. Es lebe das deutsche Vaterland!“ Auch, als Höcke in Bezug auf die Besetzung der Gerichte und Verfassungsgerichte in Deutschland und deren in Augen der AfD politisch gefärbten Urteile die bedenkenswerten Sätze sagt: „Am Ende bricht die Macht Recht. Auch Merkel hat ohne Konsequenzen Recht gebrochen. Macht kommt vor Recht“, stockt der Beifall des Publikums nicht für einen Moment.
Nach fast vier Stunden AfD pur in Rottweil haben wohl nicht nur die Schwestern Baltzer und Schmiedel das Gefühl, dass sich endlich etwas bewegt im Land und es eine Partei gibt, die laut ausspricht, was sie denken. Den Appell der Redner im Saal an das Publikum, hinauszugehen und sich künftig nicht mehr mit ihrem Bekenntnis zur AfD zu verstecken, sondern offen im persönlichen Umfeld zu sagen: „Natürlich wähle ich die AfD“, hätten sie wohl nicht gebraucht. „Alles“, sagen die Beiden am Ende auf die Frage, was sie denn mitnehmen von diesem Abend. „Wir stehen hundertprozentig zu allem, was hier gesagt wurde.“