„Ich habe selbst Angst vor mir“, erzählte der heute 19-jährige angeklagte Georgier am ersten Verhandlungstag im Landgericht Waldshut-Tiengen. Dem Angeklagten wird zur Last gelegt, im Zustand der Schuldunfähigkeit Körperverletzungen begangen zu haben.
Er soll im Norden des Landkreises eine Passantin mit zwei Fausthieben geschlagen und seiner Mutter in die Hand gebissen haben. Das klingt im ersten Moment vielleicht wie ein rebellierender, handgreiflicher Teenager. Doch der Fall erweist sich als weitaus komplexer.
Krankhafte seelische Störung
Die Körperverletzungen soll der junge Erwachsene laut Anklageschrift der Staatsanwaltschaft aufgrund seiner psychischen Krankheit begangen haben. Der Beschuldigte leide seit der frühen Kindheit an einer Autismus-Spektrum-Störung. Außerdem wurde dem 19-Jährigen eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert. Dies sei ein „erhöhtes Risikopotenzial“, so Staatsanwalt Krüger. Aufgrund seiner krankhaften seelischen Störung handelte der Angeklagte nach dem Gesetz ohne Schuld.
Kratzen, Beißen und Schlagen
Der Angeklagte soll am 25. November 2023, infolge einer Auseinandersetzung mit der Mutter, aus der Wohnung gestürmt sein und draußen mit seiner Faust auf zwei Autos eingeschlagen haben, führte der Staatsanwalt die Anklage weiter aus. Anschließend sei er zielstrebig auf eine ihm unbekannte Passantin zugelaufen und habe diese mit zwei harten Faustschlägen zu Boden geschlagen. Diese habe in Folge eine Gehirnerschütterung erlitten. Im Anschluss schlug der Angeklagte weiter auf ein Fahrzeug ein, so die Anklageschrift.

Ein Jahr später, am 10. Dezember, soll der Angeklagte seiner Mutter in die linke Hand gebissen, sowie ihren Lebensgefährten am Oberkörper gekratzt haben, nachdem sie ihn an die Einnahme seiner Medikamente erinnert hatte, so Krüger. „Der Angeklagte ist für die Allgemeinheit gefährlich“, so der Staatsanwalt.
Stimmen im Kopf
„Er findet es gut, wenn ich eine Gefahr bin“, erklärte der Angeklagte mithilfe einer Dolmetscherin. Mit „er“ ist die Stimme in seinem Kopf gemeint, die er, wohl im Zusammenhang mit seiner großen Computerleidenschaft, als „Windows Villain“ (deutsch: [Windows] Schurke) bezeichnet. “Windows spricht mit mir im Kopf.“ Der Angeklagte ist sich vor Gericht seiner Gefahr bewusst und betont, dass er schlimmer werde. Gegenüber seiner Mutter äußerte er nach ihren Angaben oft „Mama, ich habe Stimmen im Kopf, die sind stärker als ich.“ Zudem habe der Beschuldigte häufig Mord- und Suiziddrohungen geäußert. „Ich habe einen grausamen Menschen im Kopf.“
Lärm und Stress triggern ihn
Schon Kleinigkeiten könnten den Angeklagten aus der Fassung bringen, erklärte die Mutter vor Gericht. Er selbst sagte „Lärm gefällt mir nicht“. Am Tag der ersten Tat hatte sein kleiner Bruder Schluckauf, und das Wasserplätschern des Wasserhahns sei zu laut gewesen. Den Wasserhahn verbinde der Angeklagte mit Angst vor seinen Medikamenten. Infolgedessen sei es zu dem Vorfall gekommen, dass er eine Passantin auf der Straße mit Faustschlägen niederstreckte.
Auch bei dem zweiten Vorfall habe der Wasserhahn den Angeklagten getriggert. Als ihn die Mutter fragte, ob er seine Medikamente schon eingenommen habe, brachte ihn dies, laut Aussage der Mutter, aus der Fassung. Anschließend soll es zur Eskalation gekommen sein. Er verletzte seine Mutter sowie ihren Lebensgefährten. Der Angeklagte betonte vor Gericht, dass er stärker sei und er beide auch hätte umbringen können, weil er gefährlich sei.
Traumatische Kindheit
Die Mutter des Angeklagten beschrieb vor Gericht eine schwere Kindheit. Die Familie stammt aus Georgien und floh 2018 nach Frankreich. 2021 kamen sie nach Deutschland. In Georgien sei die Behandlung des Angeklagten nach Angaben der Mutter sehr schlecht gewesen. Sie berichtete von falscher Medikation und Schlägen. Seit dem Kindergarten sei der Angeklagte abgelehnt worden.
„Er ist Autist. Man wollte ihn nicht aufnehmen. Er war anders“, erzählte die Mutter. Zudem soll der Beschuldigte im Alter von 13 Jahren sexuell missbraucht worden sein. Die Mutter sei mit ihrer Familie nach Frankreich geflohen, damit es dem Angeklagten dort besser gehe. Aus demselben Grund seien sie auch nach Deutschland gekommen, erklärt sie. „In Georgien ist es gefährlich für ihn.“

Keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung
In dem Verfahren geht es laut dem Vorsitzenden Richter Martin Hauser um die Entscheidung der Unterbringung des Angeklagten. Außerdem geht es um die Beantwortung der Frage, ob der Angeklagte eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Der 19-Jährige jedoch besitzt keine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland.
„Man hat in Deutschland nicht automatisch das Recht darauf, zu bleiben“, erklärt Hauser dem Angeklagten. Doch eine spezialisierte psychiatrische Einrichtung wäre das Beste. Das Problem ist, dass es „nicht so viele spezialisierte Einrichtungen gibt“, sagt Hauser. Und die, die es gibt, seien teuer. Momentan ist der 19-Jährige in der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Lörrach untergebracht.
Die Umwelt muss sich an ihn anpassen
Die fallführende Psychologin sagte vor Gericht, dass der Angeklagte in dem letzten Vierteljahr nicht psychotisch auf sie gewirkt habe. Sie habe an dem Verhandlungstag das erste Mal von der Stimme „Windows Villain“ in dem Kopf des Angeklagten gehört. Sie stellt infrage, ob dies die autistisch bedingte Ausdrucksweise des Angeklagten ist, für etwas, wofür er keine Worte findet. Die Psychologin kann keine Selbstgespräche des Angeklagten bestätigen. Sie hält fest, dass der Angeklagte eine begrenzte Anpassungsfähigkeit hat. „Aufgrund des Autismus kann er sich nicht der Umwelt anpassen. Die Umwelt muss sich also an ihn anpassen.“
Der nächste Verhandlungstag ist für den 19. August angesetzt.