Eigentlich sollte es ein Wirtschafts- und kein Migrationswahlkampf werden. Mit der tragischen Tat von Aschaffenburg änderte sich das schlagartig, seit Tagen wird kaum über etwas anderes gesprochen. In der letzten Januarwoche fand sich bei einer Abstimmung im Bundestag nach turbulenten Beratungen keine Mehrheit für Verschärfungen in der Asyl- und Grenzpolitik. Abseits der aktuellen Auseinandersetzungen dazu: Wie hat sich die Lage auf den Routen, an der Grenze, in den hiesigen Unterkünften zuletzt entwickelt?
Im zurückliegenden Jahr ist die Zahl der Asylanträge in Europa um zwölf Prozent zurückgegangen. Wohl hauptsächlich wegen der Abkommen der Europäischen Union mit Libyen und Tunesien haben sich die Fluchtrouten in Richtung Nord-West-Afrika und damit von der zentralen auf die westliche Mittelmeerroute und auf den Atlantik verlagert. Folglich kamen deutlich mehr Menschen auf den Kanaren an, um 17 Prozent stieg ihre Zahl.
Asylanträge gehen überdurchschnittlich zurück
In Deutschland führte unter anderem diese Verschiebung zu einem EU-weit überdurchschnittlichen Rückgang der Asylgesuche um 30 Prozent – mit 229.751 wurden hier aber weiterhin die meisten Erstanträge gestellt. Mit den veränderten Routen ging auch die Zahl der festgestellten unerlaubten Einreisen zurück.
Nach einer Statistik der Bundespolizei wurden im Jahr 2024 an den deutschen Land-, Luft- und Seegrenzen 83.009 unerlaubte Einreisen festgestellt, im Vorjahr waren es noch 127.549. Die Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz werden seit Oktober 2023 wieder kontrolliert, die zu Österreich bereits seit 2015 und alle anderen seit dem vergangenen September.
Auch im Südwesten deutlich weniger Flüchtlinge
Analog zum Bundestrend gingen auch die Zahlen an der Schweizer Grenze um ein Drittel auf 12.989 zurück. 11.560 Personen wurden vor der Einreise zurückgewiesen.
In Baden-Württemberg wurden 22.105 Asylsuchende registriert – nach 36.319 in 2023. Damit liegt das zurückliegende Jahr deutlich unter dem Durchschnitt seit 2014, ist aber immer noch höher als zwischen 2017 und 2021. Auch kommunal sind die Zahlen zuletzt deutlich zurückgegangen: Im Jahr 2024 kamen 647 Flüchtlinge in den Landkreis Konstanz, 93 davon aus der Ukraine. Im Jahr zuvor waren es noch 2144, davon 899 aus der Ukraine. Macht sich der Rückgang in der täglichen Arbeit vor Ort bemerkbar?

Niemand mehr aus der Ukraine
Besuch in der Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge in der Stockacher Oberstadt. Vor gut zwei Jahren waren hier 130 Menschen untergebracht, in dieser Zeit kamen und gingen viele Ukrainer. Heute ist niemand mehr aus der Ukraine hier, die Kriegsflüchtlinge hatten von Anfang an andere Rechte und durften sich normal niederlassen.
Dennoch sind Mitte Januar 145 Menschen hier untergebracht, mehr noch als im März 2023. „Die Unterkunft ist eigentlich immer relativ gut ausgelastet, weil die Unterbringungssituation im Haus und die Lage gut sind“, sagt Andrea Gnädinger, die das Referat Unterbringung beim Migrationsamt des Landkreises leitet. Supermärkte, Ärzte, Kindergärten, Schulen – alles ist fußläufig erreichbar. Der Landkreis will die notdürftigen Leichtbauhallen zurückbauen, Sporthallen sollen frei bleiben. Deren Bewohnerinnen und Bewohner müssen also neu verteilt werden.
Ruhiger sei es aber geworden, erzählt die Unterkunftsleiterin Susanne Kalopek. Die Menschen aus der Ukraine konnten ohne reguläres Asylverfahren schließlich schnell in private Wohnungen, waren meist nur kurz in dem früheren Altersheim, es gab viel Fluktuation. „Und manchmal auch Neid, weil die anderen sehen konnten, wie einfach bei den Ukrainern alles ging: schnell ausziehen, Haustiere mitbringen, Arbeit aufnehmen“, so Kalopek.
Eine ukrainische Familie komme aber nach wie vor mehrmals wöchentlich, um für 80 Cent in der Stunde in der Unterkunft zu putzen – obwohl die vier längst eine Wohnung in einer Nachbargemeinde haben.
Die Hälfte der Bewohner ist gut beschäftigt
Überhaupt sei mehr als die Hälfte der Untergebrachten beschäftigt: mit Sprachkursen und Schule, aber auch Arbeit. „Einige sind in der Gastronomie und bei Reinigungsfirmen untergekommen, außerdem bei den zwei, drei größeren Industriebetrieben, die wir in Stockach haben“, sagt Kalopek. Ein paar arbeiteten im Amazon-Verteilzentrum in Meßkirch. „Wenn sie sich da bewähren, gibt es nach der Probezeit direkt einen Anschlussvertrag für eine Festanstellung.“
Die Menschen sind mit dem geregelten Tagesablauf einfach zufriedener, das merke sie, sagt die Unterkunftsleiterin. Konflikte gebe es zwar auch manchmal, dank der geräumigen Unterkunft mit Privatsphäre in vielen Zweierzimmern mit eigenem Bad komme das aber selten vor – „und wenn mal etwas nicht passt, kommen die Geflüchteten immer gleich auf uns zu und wir schauen gemeinsam, was wir machen können.“
Diskussionen gehen nicht spurlos an Flüchtlingen vorüber
Die politischen Diskussionen gehen aber auch an den Bewohnerinnen und Bewohnern der Unterkunft nicht vorbei. „Was ich manchmal höre: dass die Leute einfach öfters im Haus sind, nicht mehr in die Schule gehen, im Job fehlen“, erzählt Susanne Kalopek. „Wenn man dann nachfragt, was sie in der Unterkunft machten, heißt es dann: ‚Ich gehe nicht mehr in die Schule.‘ ‚Wieso gehst du nicht mehr in die Schule?‘ ‚Ja, die schicken mich ja sowieso heim.‘“
Wo die Chancen für einen Aufenthalt schlecht stehen, seien auch die Anwälte teilweise ziemlich direkt und offen, so Kalopek: „Ich habe gerade kürzlich einen Fall gehabt, da bekam jemand einen Negativbescheid. Da sagte der Anwalt klipp und klar: Er könne den Leuten natürlich mit Beratungsgesprächen Geld aus der Tasche ziehen, das mache er aber nicht, weil das eh keinen Wert hat.“ Er rate den Menschen dann, sich das Geld zu sparen und zu überlegen, ob sie nicht wieder nach Hause möchten.

Klar ist aber auch: „Die Situation in den Häusern hat sich trotz der geringeren Zugänge nicht entlastet. Der Landkreis Konstanz hat 1707 Unterbringungsplätze, davon sind 1310 belegt, das sind 76 Prozent“, sagt Gnädinger. Zumindest gebe es „keinen massiven Rückstau“ dabei, die Geflüchteten in Anschlussunterbringungen in den Gemeinden zu überweisen.
Und wenn es dort mal einen Monat länger dauere und die Personen entsprechend etwas länger in der Gemeinschaftsunterkunft bleiben müssen, „machen wir keinen Druck auf die Kommunen, sondern sprechen miteinander“. Denn die Gemeinden hätten schon Schwierigkeiten, neue Geflüchtete in Anschlussunterbringungen aufzunehmen, weil es von dort oft nur schwer weitergeht, so Gnädinger.
Angebot auf dem Wohnungsmarkt ist ein Problem
Dass es von dort oft nur schwer weitergeht, liegt an dem kleinen Angebot auf dem privaten Wohnungsmarkt. Finden die Geflüchteten nichts, müssten sie zwangsläufig in der Anschlussunterkunft bleiben, wo dann Platz für Neuankömmlinge fehlt. Arbeitgeber würden aber zunehmend bei der Wohnungsvermittlung helfen, sagt Kalopek: bei der Suche, weil sie Vermieter kennen oder selbst Objekte haben. „Das ist für unsere Leute hier in der Unterkunft auch ein gutes Signal: Die Sprache lernen, einen guten Job kriegen – dann steigen die Chancen, eine eigene Wohnung zu finden.“

Asyl-Beschlüsse erst mal folgenlos
Die in den letzten Wochen dieses Wahlkampfes doch noch aufgekommene Migrationsdebatte hat keine unmittelbaren praktischen Auswirkungen auf die Grenz-, Asyl- oder Migrationspolitik in Deutschland. Mit ihrem erfolgreichen Entschließungsantrag vom 29. Januar forderten Union, AfD und FDP sowie einige fraktionslose Abgeordnete die Bundesregierung zwar auf, die deutschen Landgrenzen zeitlich unabsehbar zu kontrollieren. Der Antrag ist aber nicht bindend.
Die nicht mehr beschlossenen Gesetze dieser endenden Legislaturperiode fallen dann dem sogenannten Diskontinuitätsprinzip zum Opfer. Sie werden vom nächsten Bundestag nicht weiterverhandelt, müssten also neu entworfen und verhandelt werden.
Das am 31. Januar von SPD und Grünen noch einmal eingebrachte Gesetz zur Umsetzung der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems fand auch keine Mehrheit, eine Neufassung muss bis Juni 2026 in Kraft treten, so hat es die EU beschlossen. Eine möglicherweise langwierige Regierungsbildung könnte das kompliziert machen – zwar kann der Bundestag auch ohne Regierung ein solches Gesetz beschließen. Die Fronten dabei aber scheinen verhärtet.