Wer ist nicht für Freiheit? Sie ist die Grundvoraussetzung jeder Demokratie. Sie ist kein Gnadenakt von oben, sondern ein Grundrecht, das in unserer Gesellschaftsordnung nicht erbettelt oder erkämpft werden muss. Sie gilt für jeden Bürger, auch wenn es derzeit corona-bedingt schmerzhafte Einschränkungen gibt.

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Trotzdem bleibt es befremdlich, wenn Zehntausende auf die Straße gehen, um für etwas zu demonstrieren, das ihnen angeblich in finsterer Absicht geraubt wurde – in den vergangenen Wochen in Stuttgart und Berlin, demnächst vermutlich am Bodensee. „Ich will Freiheit, Freiheit für meine Kinder“, brüllte ein Mann den Polizisten entgegen, die in Berlin auf den Treppen des Bundestags vor einem Meer von Reichsflaggen den Eingang bewachten. Freiheit wovon? Die Videoaufnahme, die die Szene zeigt, sagt es nicht.

Sie sehen böse Mächte im Spiel

Man darf vermuten: Freiheit von Corona-Regeln, vom Zwang, eine Maske zu tragen, von der Vorschrift, Abstand zu halten. Einige Hartgesottene, die bei diesen Aufmärschen mitmischen, verstehen unter Freiheit etwas anderes. Sie sehen hinter der Pandemie böse Mächte walten, von Angela Merkel bis zu Bill Gates und den Rothschilds. Der Kampf gegen die Corona-Auflagen ist für sie der Kampf für einen anderen Staat.

So gesehen, bleibt es ein Rätsel, wer sich derzeit unter dem Schlachtruf „Freiheit“ auf den Straßen alles zusammenfindet. Linke, Rechte, Impfgegner, Reichsbürger, Friedensbewegte, Verschwörungsfasler und immer wieder Fanatiker voller Hass und Umsturzfantasien: Hauptsache dagegen, so lautet das Motto, das sie eint. Dazwischen finden sich verunsicherte und besorgte Bürger, die der Auffassung sind, dass die Corona-Maßnahmen der Regierung mehr Schaden als Nutzen bringen und deshalb dringend geändert werden müssen. Sie stellen in diesen Aufzügen vermutlich sogar die Mehrheit.

Was sie sagen, muss man in einer Demokratie sagen dürfen, zumal sie friedlich über das Pflaster marschieren, wenn auch weitgehend ohne Atemmaske und Sicherheitsabstand. Erstaunlich bleibt aber, wie schmerzfrei dieser bürgerliche Kern der Corona-Querdenker auf seine unbürgerlichen Mitstreiter reagiert.

Stilles Bündnis von Biedermännern und Brandstiftern

Die Zeichen von Rassismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus sind in der Menge nicht zu übersehen, ihre Flaggen und Plakate hängen über allen Köpfen. Trotzdem werden sie kleingeredet, ausgeblendet, wegdiskutiert. Nichts gehört, nichts gesehen, nichts gesagt. Dieses stille Bündnis von Biedermännern und Brandstiftern zählt zu den beunruhigendsten Erscheinungen im Corona-Jahr 2020.

Allerdings hilft gegen diese Allianz kein Kopfschütteln, kein anklagender Zeigefinger und erst recht kein Demonstrationsverbot. Solche Reaktionen vertiefen die Gräben nur. Die Mehrheit der Bundesbürger trägt die Corona-Politik von Bund und Ländern mit, wie Umfragen eindeutig belegen. Viele hegen aber auch Zweifel und fragen, ob der Staat im Kampf gegen die Pandemie das richtige Maß gefunden hat. Diese Einwände sind legitim und im Rahmen einer demokratischen Meinungsbildung sogar notwendig. Manche von ihnen wurden anfangs, als der Staat schnell handeln musste, vielleicht eine Spur zu harsch abgebügelt. Hier braucht es wieder offene Ohren. Auch die Demokratie muss lernen, mit dem Virus zu leben.

Kein Freibrief für Egoismus

Unsere Republik wird die Proteste daher aushalten – sofern alle die Spielregeln respektieren. Wer Maskenpflicht und Mindestabstand für Freiheitsberaubung hält, muss sich fragen lassen, welchen Freiheitsbegriff er hat. Die Freiheit jedes Bürgers, das wussten schon die Staatsphilosophen der Aufklärung, endet dort, wo die Freiheit seines Nachbarn beginnt. Auf diesem Grundsatz basieren unsere Verfassung und unser Gemeinwesen.

Freiheit ist kein Freibrief für Egoismus und Schrankenlosigkeit, sondern heißt immer auch Verantwortung. Wenn ein Staat funktionieren soll, setzt er im Interesse der Gesamtheit Regeln durch, selbst wenn nicht jeder Quertreiber sie einsieht. Auch Autofahrer, die Ampeln verfluchen, müssen bei Rot halten. Niemand kann nachts um drei in seiner Wohnung die Stereoanlage aufdrehen, ohne Besuch von der Polizei zu riskieren. Selbst die Gurtpflicht ist in unserer Gesellschaft allgemein akzeptiert, obwohl ein Verstoß nicht andere gefährdet, sondern nur den Gurtmuffel selbst.

In Zeiten der Pandemie heißt das: Jeder darf für seine Ansichten auf die Straße gehen. Er muss sich jedoch fragen lassen, mit wem er marschiert und wie er es mit dem politischen Abstandsgebot hält. Vor allem aber muss er Rücksicht auf Leib und Leben seiner Mitmenschen nehmen. Viele Corona-Rebellen verstoßen bewusst dagegen und tragen ihre Ist-mir-doch-egal-Haltung offen zur Schau. Sie dürfen sich über Gegenwind nicht wundern.

http://dieter.loeffler@suedkurier.de