Herr Mayer, als die russische Invasion am 24. Februar in der Ukraine losging, wollten Sie sofort hin und berichten?
Dazu muss man vorausschicken, dass ich über den Krieg in der Ukraine schon seit fünf Jahren als Langzeitprojekt berichte. Mir war klar, dass diese Invasion kommt. Mitte Februar wartete ich deshalb an der Frontlinie im Donbas auf ihren Beginn. Dann musste ich für einen Auftrag nach Afghanistan. Kaum gelandet, begann der Angriff Russlands auf die Ukraine. Für mich ging es nach Afghanistan wieder in die Ukraine. Seitdem reise ich rund alle fünf Wochen für zwei bis drei Wochen in die Ukraine.

Was für Gefühle treiben Sie um, wenn Sie in ein Kriegsgebiet reisen? Haben Sie Angst?
Ich habe mir Sorgen gemacht, weil wir acht Jahre ignoriert haben, dass mitten in Europa ein Krieg stattfindet. Letztendlich sind wir auch deshalb heute in dieser Situation. Weil wir es eben zugelassen haben, dass mit Panzern neue Grenzen gezogen wurden. Die Eskalation des Kriegs kam ja nicht aus heiterem Himmel, sie geschah mit Ankündigung. Man hätte Putin viel früher seine Grenzen zeigen müssen. Als ich 2017 das erste Mal an der Front war, boten sich mir verstörende Bilder. Über Hunderte von Kilometern zogen sich die Schützengräben. Bilder wie aus der Zeit gefallen. Mitten in Europa. In Deutschland vergessen und verdrängt. Das Verdrängen hat mir Angst gemacht. Ich empfand es als sehr gefährlich.
Um Ihre eigene Sicherheit machen Sie sich also keine Sorgen?
Ich habe Respekt vor der Situation. Ich arbeite mit einem guten ukrainischen Freund zusammen. Er ist Fotograf und kämpfte 2014 als Soldat für sein Land. Er hat einen militärischen Background. Wir besprechen, was von der Sicherheitslage her möglich ist und was nicht. Was mir am meisten Sorge macht, ist, dass ein Bild von mir Leben in Gefahr bringen kann, zum Beispiel die Stellung einer ukrainischen Einheit verrät. Das könnte für die Soldaten tödlich sein. Oder ein Interviewpartner von mir würde in russische Gefangenschaft geraten …
Wie bewegen Sie sich fort? Sind Sie mit dem eigenen Auto unterwegs?
Ich fahre mit dem Flixbus nach Kiew. Dort haben wir ein uraltes SUV stehen, mit dem es dann weitergeht. Leider hat das SUV zuletzt bei einer anderen Fahrt meines Kollegen Granatensplitter abbekommen. Wir hoffen, dass der Wagen bei der nächsten Reise wieder fit ist.

Wie nahe sind Sie der Front bislang gekommen?
Ich berichte aus dem Hinterland, aber auch direkt von der Front. Einmal war ich bei einem Kampfeinsatz so dicht dran, da habe ich auch die Granaten pfeifen hören. Aber das ist wesentlich weniger als das, was manche ukrainische Kollegen leisten. Die sind wirklich zwei, drei Wochen mit der kämpfenden Truppe unterwegs. Bei mir sind das zwei, drei Tage.
Wie wichtig ist es, die Landessprache zu sprechen?
Ich kann leider kein Ukrainisch. Ich versuche, es zu lernen. Leider mit sehr mäßigem Erfolg. Für mich übersetzt immer mein Kollege. Manchmal können auch die Protagonisten selbst Englisch.
Sie haben viele berührende Fotos gemacht – von Omas, die in ihrer Wohnung ausharren, von Menschen, die ihre Angehörigen verloren haben. Wie schwer ist es, auf sie zuzugehen und an sie heranzukommen?
Ich berichte aus der Ukraine seit 2007, kenne das Land also sehr gut. Und ich habe inzwischen auch viele Freunde dort. Viele der Menschen, die in meinen Reportagen vorkommen, schätze ich seit Jahren. Sie lassen mich sehr nahe an ihr Leben im Krieg heran. Näher, als sie es vermutlich bei einem fremden Journalisten zulassen würden. Aber meist ist es ihnen wichtig, dass man ihre Geschichte erzählt. Weil ihnen ein unglaubliches Unrecht geschieht. Oft ist es sogar so, dass sie sich bei mir bedanken, dass ich in die Ukraine komme.

Welche Ihrer Begegnungen hat Sie am meisten bewegt?
Das sind wirklich viele. Es schmerzt, wenn man sieht, wie Menschen, die man sehr schätzt, unter der Situation leiden. Einmal besuchte ich ein gerade befreites Dorf bei Kupiansk. Eine Mutter hatte ihren Sohn in einem Bombentrichter vor ihrem Haus begraben. Er war von russischen Soldaten gezielt getötet worden. Ein Scharfschütze hatte auf sie geschossen, als sie den Leichnam bergen wollte. Die Begegnung mit ihr werde ich nicht vergessen.
Aber ich denke, am meisten beeindruckt mich die Widerstandskraft, die die Ukrainerinnen und Ukrainer entwickeln. Sie lassen sich einfach ihre Freiheit nicht nehmen, glauben an die Zukunft ihres Landes. Es geht in diesem Krieg nicht darum, ob nun eine russische oder eine ukrainische Fahne über einem Rathaus weht. Es geht darum, dass die Menschen weiter in Freiheit leben wollen. In russisch besetzen Gebieten wird gemordet, gefoltert und vergewaltigt, Menschen verschwinden. Es gibt dort keine Freiheit. Das dürfen wir hier in Deutschland nie vergessen.
Ist die Widerstandskraft der Ukrainer noch so stark wie am Anfang?
Sie bleibt stark. Auch wenn es nach über 300 Tagen Krieg die Menschen sehr viel Kraft kostet durchzuhalten. Ich mache mir ehrlich gesagt mehr Sorgen, dass bei uns die Solidarität ins Wanken gerät, als dass die Ukrainerinnen und Ukrainer ihren Mut verlieren. Die Menschen in der Ukraine halten durch. Aber sie brauchen dazu weiter unsere Unterstützung.

Sie waren schon in vielen anderen Konfliktgebieten der Welt unterwegs. Was war am härtesten?
Ich reise immer dann in ein Krisengebiet, wenn die Kollegen wieder abgezogen sind. Wenn ein Konflikt droht, ihn Vergessenheit zu geraten. Was waren die schlimmsten Erlebnisse? Dieses Jahr bin ich Afghanistan einem Mädchen begegnet, das durch einen Raketeneinschlag selber ein Bein verloren hat, ihre Mutter und zwei Geschwister – und eigentlich gar keine Zukunftsperspektive hat. Im Irak interviewte ich einen Vater, dessen Kinder noch nicht wussten, dass ihre Mutter und ein Bruder durch einen Sprengsatz getötet wurden. Es war grausam.
In der Ukraine sind mittlerweile Menschen ums Leben gekommen, die ich kenne. Vor vielen Jahren habe ich über eine Dürre in Äthiopien berichtet. Das war für mich unfassbar zu sehen, dass im 21. Jahrhundert immer noch Menschen an den Folgen von Unterernährung sterben. Es sind viele traurige Bilder. Ich weiß nicht, was das Härteste ist. Ich frage mich das auch nie.
Sie gehen erst hin, wenn andere wieder abziehen, sagen Sie. Drucken dann noch genug Zeitungen Ihre Bilder und Geschichten?
Wenn es mir nur um die Karriere gehen würde, wäre das vermutlich die denkbar dümmste Art und Weise, Journalismus zu machen. Aber ich finde es wichtig, es ist meine Aufgabe. Der Krieg hört ja nicht auf, wenn die Medien nicht mehr über ihn berichten. Journalismus darf nicht kurzatmig sein. Da wird ein Krieg gehyped. Er ist dann völlig präsent, aber nur für eine kurze Zeit. Dann gerät er wieder in Vergessenheit.
Dabei sind die Kriege oft miteinander verwoben. Ich war zum Beispiel 2019 in der Zentralafrikanischen Republik. Da waren auch russische Wagner-Söldner vor Ort. Vom Wegschauen löst sich keine Herausforderung. Das sollte uns die Ukraine lehren. Jetzt ist unser aller Frieden in Gefahr. Putin wird sich nicht mit der Ukraine zufrieden geben, wenn er keine Niederlage einfährt. Er will mehr.

Wie wird man Kriegs- und Krisenreporter? Wie kam das bei Ihnen?
Ich war 22 Jahre alt, als ich während des Bosnienkriegs mit einem Hilfsgüterkonvoi nach Mostar fahren konnte. Da war ich das erste Mal in einem Kriegsgebiet. Mit der Geschichte habe ich mich beworben, habe an das Rote Kreuz geschrieben, ob ich nicht über ihre Arbeit in einem Kriegsgebiet berichten könnte. Zwei Monate später saß ich im Flieger nach Ruanda.
Dann ging es eigentlich schnell weiter. In den 90er-Jahren habe ich viele über die afrikanischen Kriege berichtet – Angola, Somalia, Sierra Leone, Liberia, Sudan … Da gab es leider sehr viele blutige Kriege. Später kamen der Nahe und Mittlere Osten hinzu, Lateinamerika, Asien … Heute würde es so eine „Karriere“ vermutlich kaum noch geben.
Wenn Sie nicht auf Reportage-Reise sind, sind Sie ja ganz normaler Redakteur beim „Obermain-Tagblatt“. Wie ist es, nach solchen Erlebnissen wieder am Schreibtisch zu sitzen und Meldungen zu redigieren?
Lokaljournalismus bedeutet ja nicht nur Meldungen redigieren. Lokaljournalismus ist etwas Schönes! Sehr nahe am Menschen. Ich schätze ihn nicht geringer als mein zweites journalistisches Standbein. Lokaljournalismus ist sehr wichtig – auch für unsere Demokratie.
Ist der Gegensatz zwischen Lokaljournalismus und Kriegsreporter angenehm?
Heute reichen internationale Krisen ins Lokale hinein – nehmen wir das Beispiel Geflüchtete oder werfen einen Blick auf die Anzeigentafeln örtlicher Tankstellen. Die Zeiten sind vorbei, wo Kriege einfach nur weit weg zu sein scheinen. Meine beiden Rollen als Journalist haben durchaus fließende Grenzen. Aber die Konstellation ist nicht immer einfach.
Was für Eigenschaften muss man mitbringen für ein Kriegsreporter-Dasein?
Man muss bei aller wichtigen Empathie auch Distanz wahren können. Sonst kann man den Beruf nicht machen, sonst verbrennt man daran. Das funktioniert bei mir ganz gut, aber natürlich nicht immer. Manche Bilder, die ich in mir trage, sind eine Bürde. Wer aus Kriegen berichtet, sollte auch bereit und stark genug sein, sie zu tragen.
Würden Sie sagen, das macht auch süchtig: Immer da zu sein, wo es brennt?
Ich würde mich selbst nicht so sehr als üblichen Kriegsfotografen und -berichterstatter bezeichnen, sondern eher als Sozialfotografen und -journalisten, der viel in Kriegsgebieten unterwegs ist. Ich will keine Schlachtengemälde zeichnen. Den Krieg erzähle ich anhand von Schicksalen. Ich bin kein Adrenalin-Junkie. Aber um die Schicksale zu zeigen, muss man natürlich auch ins Frontgebiet.
Wann steht Ihre nächste Reise an?
Anfang Januar geht es wieder los in die Ukraine.
Wohin da?
Den genauen Ort kann ich nicht sagen, aber nach Osten ins Kampfgebiet.
Mehr Fotos und Texte von Till Mayer gibt es um Bild- und Reportagenband „Ukraine – Europas Krieg“, der im Erich-Weiß-Verlag erschienen ist.