Herr Professor Lindner, wird die Ukraine genauso wie zuvor die Krim de facto annektiert und die Welt sieht zu?

Es herrscht Krieg. In diesen Stunden wird in Kiew geschossen und bombardiert wie auch in zahlreichen anderen Städten des Landes. Freunde berichten mir von erschütternden Szenen aus der Ukraine. Russland scheint einen Regierungswechsel für die gesamte Ukraine zu planen. Wir sehen einen verbrecherischen Angriffskrieg und muss von einer großflächigen russischen Besetzung ausgehen.

Rainer Lindner ist Vorstand des Deutsch-Ukrainischen Forums in Berlin und Professor an der Uni Konstanz im Fachbereich Osteuropa.
Rainer Lindner ist Vorstand des Deutsch-Ukrainischen Forums in Berlin und Professor an der Uni Konstanz im Fachbereich Osteuropa. | Bild: Fotoatelier Christiane

Putin greift Ziele in der gesamten Ukraine an – will er wirklich wieder ein Großrussland schaffen?

Die Ukraine gehört nach dem Weltbild des Kremls offensichtlich zum direkten Einflussgebiet und liegt in einer Sicherheitszone, die Russland für sich definiert hat. Selbst wenn das so ist: ein Krieg und Angriff auf Soldaten und friedliche Zivilisten, auf ein ganzes Land, eine Nation, ist durch nichts zu rechtfertigen.

Die Ukraine hat eine lange Grenze mit Polen, der Slowakei und Rumänien. Ich denke, dass die Nato-Grenze als solche im Blick ist. Das ist eine postimperiale Politik, die in Russland derzeit herrscht und seinen Präsidenten in seinem Handeln treibt.

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Was meinen Sie damit?

Der Untergang des Sowjetreiches und des russischen Imperiums wird offenbar bis heute als Verlust empfunden. Das zeigen auch die absurden Erklärungen des Kremls.

Müssen die baltischen Staaten und Polen um ihre Sicherheit fürchten?

Das sind Mitgliedstaaten der Nato, hier gibt es den Beistandsartikel 5. Ich gehe nicht davon aus, dass weitere Pläne seitens Russlands bestehen. Es ist dennoch richtig, dass wir die Nato-Grenzen dort jetzt sichern.

Kann sich Deutschland in dieser Lage weiter darauf zurückziehen, der Ukraine keine Waffen zu liefern?

Das sind Fragen, die die Bundesregierung und die Nato beantworten müssen. Die Grenzen der Nato-Staaten zu stärken, ist richtig und wird noch wichtiger sein. Die Bundesregierung leistet mit Lazaretten humanitäre und operative Hilfe. Und wir werden mit Geflüchteten rechnen müssen, auch da wird Deutschland eine Rolle spielen müssen.

Was tut das Deutsch-Ukrainische Forum, um zu helfen?

Wir beginnen heute mit einem Hilfsprogramm „Für die Menschen in der Ukraine“, wir sammeln bereits Spendengelder und werden humanitäre Hilfe ins Land bringen (www.d-u-forum.de). Schon während der Pandemie haben wir Hilfsgüter ins Land gebracht, gemeinsam mit den Johannitern. Auf dieses Netzwerk, Kirchen und zivile Organisationen im Land stützen wir uns jetzt. Leider sind auch diese Menschen derzeit unter Beschuss. Wir werden alles versuchen. Ich denke in diesen Stunden auch an die Mitarbeiter der etwa 2000 deutschen Unternehmen in der Ukraine.

Gehen die Sanktionen der EU weit genug und was können sie bewirken?

Die EU hat ein starkes Maßnahmen-Paket erlassen. Die Sanktionierung des russischen Bankensektors ist ein starker Einschnitt für die russische Wirtschaft, Deutschland hat die Hermes-Kreditbürgschaften gekündigt. Das Instrument wird vom deutschen Mittelstand genutzt, um in Russland aktiv zu werden. Wir können in der EU und Deutschland auch nicht davor zurückschrecken, selbst negative Folgen der Sanktionen zu tragen. Das ist das Mindeste, was wir für ein Land im Krieg tun können.

Wie lange kann Russland isoliert durchkommen, selbst wenn es vom Finanzmarkt abgeschnitten ist und North Stream 2 dicht bleibt?

Wir haben 4500 deutsche Unternehmen in Russland und viele Projekte und Investitionen. Russland braucht die internationalen Warenströme, Sanktionen treffen das Land sehr. Man kann nur hoffen, dass der Kreml einlenkt und die Folgen fürs eigene Land versteht, um möglichst schnell zu Verhandlungen zu kommen.

Welche Schuld trägt die Vorgänger-Bundesregierung an der aktuellen Lage? Hätte ein Stopp von Nord Stream 2 schon nach der Annexion der Krim etwas bewirken können?

Von Schuld spreche ich nicht. Deutschland ist in einer umfassenden Energietransformation, gerade nach der Zeit von Fukushima. Gas ist elementar als Brückenenergie. 55 Prozent der Gaslieferungen an Deutschland kommen aus Russland: Das kann man nicht über Nacht ersetzen.

Aus heutiger Sicht brauchen wir, woher auch immer, Gaslieferungen. Das wird sicher auch weiterhin Russland bleiben. Auch im Kalten Krieg wurde dieser Bereich nicht angetastet. Ich vermute, dass es auch jetzt wieder so kommen wird.

Putins Reputation in Russland war zuletzt ja nicht mehr allzu hoch – hofft er mit seinem Expansionsplan zu punkten und seine Macht zu sichern?

Vermutlich ist das die Hoffnung. Aber wenn ich die Demonstrationen in den russischen Großstädten sehe, regt sich Widerstand. Das ist auch nicht verwunderlich, in Russland leben zwei Millionen Ukrainer. Bezieht man ihrer Familienverbindungen mit ein, gibt es sicher zehn Millionen Menschen, denen die Ukraine nicht egal ist und einen weiteren großen Teil der Russen, die den Krieg ablehnt. Russland ist nicht der Kreml.

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Putin wollte internationale Anerkennung und Russland als Großmacht etablieren. Will er nun stattdessen die internationale Gesellschaft das Fürchten lehren?

Das vermag ich kaum zu sagen. Wenn man einen Eroberungskrieg anzettelt in einer globalisierten Welt, führt das nie zu Anerkennung. Im Gegenteil. Dieses Verhältnis ist aus heutiger Sicht nicht mehr zu reparieren. Die Zukunft wird zeigen, was der Krieg für Russland bedeutet.

Etwa die Hälfte des weltweiten Arsenals an Atomwaffen befinden sich in Russland. Putin hat einen Schlag mit Atomwaffen nicht ausgeschlossen. Wie realistisch ist dieses Szenario?

Das möchte ich vollkommen zurückweisen, schon als Idee. Das ist außerhalb jeglicher Akzeptanz und Menschlichkeit, dies in Betracht zu ziehen als Teil seiner militärischen Operation.

Russland fühlte sich von der Expansion der Nato im Osten Europas bedroht. Die Ukraine galt bisher als „Pufferstaat“ zwischen Russland und der Nato – gibt es ein Szenario, in dem das Land gute Beziehungen mit beiden Seiten pflegen könnte oder ist es dafür jetzt zu spät?

Dafür ist es vermutlich zu spät. Wir müssen aber davon ausgehen, dass es eine andere Regierung in der Ukraine geben wird. Was eine künftige ukrainische Regierung von Russlands Gnaden tut, vermag ich mir nicht vorzustellen. Eine Ukraine als Partner von Nato und EU rückt gerade unter unseren Augen in weite Ferne. Aber in diesen Stunden geht mein Blick nicht voraus, während ukrainische Soldaten um ihre Heimat und um ihr Leben kämpfen.