Die Welt ist fassungslos, es ist Krieg mitten in Europa. Völlig überrumpelt waren auch die Menschen in der Ukraine, die Bürger von Kiew, die mit vielem rechneten, aber nicht damit, dass auch die Hauptstadt angegriffen würde. Alena Lwowa wohnt direkt in Kiew und berichtet, wie sie um 5 Uhr morgens von lauten Explosionen geweckt wurde. Später sei von der Kiewer Verwaltung berichtet worden, dass es sich wohl um russische Drohnen handelte. „Es ist ein Schock, ich hätte nie gedacht, dass Kiew angegriffen wird“, sagt Alena Lwowa am Telefon. „Ich hatte damit gerechnet, dass das Ziel die Annexion der separatistischen Gebiete ist. Aber das...“

Plötzlich sind alle zuhause

Im Leben der Kiewer ist plötzlich nichts mehr planbar. Lwowa arbeitet, allerdings im Homeoffice. Sie ist Moderatorin bei Fernsehen und Radio, an diesem Tag vertritt sie einen Kollegen. Eigentlich hatte sie ganz andere Pläne, Alena wollte am kommenden Wochenende nach Paris fliegen und ihren Freund, einen Franzosen, heiraten. „Aber es wird nicht funktionieren. Ich bekomme keine Papiere für meine Tochter, sie ist 12 Jahre alt und ich kann sie sicher nicht alleine lassen.“ Im Moment sind ohnehin alle zu Hause, die Schulen sind geschlossen, auch viele Büros und Arbeitsstätten. Die U-Bahn sei regulär in Betrieb, die Menschen hätten aber Angst, sie zu nutzen. Lwowa weiß nicht, wie es weitergehen soll für sie und ihre Tochter. „Ich will nicht fliehen, mein ‚Franzose‘ möchte mich allerdings bei sich haben. Außerdem habe ich Eltern in der Ostukraine.“ Dort solle es wohl noch relativ ruhig sein, die Kämpfe spielten sich eher in Grenznähe ab. Dennoch macht sie sich Sorgen um die Eltern. So lang sie nicht weiß, was sein wird, arbeitet sie weiter.

Die Angst treibt die Wörter voran

Iren Vojko ist aufgeregt, sie redet schnell, als müsse die Angst die Wörter vorantreiben. Es ist auch Wut, die sie treibt. „Das ist eine klare Aggression gegen die Ukraine. Über dem Land sind Flugzeuge, sie werfen Geschosse ab und treffen auch die Zivilbevölkerung. Sie treffen Brücken und Häuser. Aber wir sind doch nur eine normale Zivilbevölkerung!“ Iren Vojko lebt in der Stadt Vizhgorod, etwa zehn Kilometer von Kiew entfernt. Auch sie berichtet von den Detonationen gegen 5 Uhr morgens. Und macht sich Sorgen um das nahegelegene Elektrizitätswerk samt Stausee. Vojko ist überzeugt, dass es getroffen werden soll und das würde eine riesige Explosion hervorrufen. „Für die Kinder ist es schrecklich, wir haben Angst um unser Leben!“ ruft sie aus. Die Architektin appelliert an die Außenwelt: „Es ist unsere Heimat, wir haben ihnen nichts getan. Wir fordern die Weltgemeinschaft auf, sich zu erheben gegen den Aggressor. Sonst wird er nach der Ukraine weiter machen.“

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Im Moment konzentrierten sie sich aufs Überleben. Sie hätten eingekauft, nun passe sie auf ihre elfjährige Tochter auf. „Wir haben einen Keller, in dem wir Unterschlupf finden. Aber Angst haben wir trotzdem.“ Vor einigen Stunden hätten sie Besuch bekommen von einer jungen Familie aus Deutschland mit einem acht Monate alten Kind. Ilya Yuga ist in der Ukraine geboren, lebt aber seit vielen Jahren in Berlin. „Der Großvater meiner Frau ist krank, deshalb sind wir hierher in die Ukraine gekommen“, sagt Yuga, als er den Telefonhörer von Iren Vojko weitergereicht bekommt.

Alle wollen nur noch weg: Wer gestern in westlicher Richtung aus Kiew raus wollte, landete im Stau. Bild: AFP
Alle wollen nur noch weg: Wer gestern in westlicher Richtung aus Kiew raus wollte, landete im Stau. Bild: AFP | Bild: GENYA SAVILOV

Deutsche Familie vom Krieg überrascht

„Dass es zum Krieg kommt, haben wir nicht erwartet“, sagt er. Hier, etwas entfernt von Kiew, sei es vermutlich etwas sicherer für sie – denn die kleine Familie weiß nicht, wie sie wieder zurück nach Deutschland kommen soll. „Wir haben Angst, klar. In Kiew ist alles abgesperrt, jedes Auto wird kontrolliert, ob der Fahrer Waffen mit sich führt.“ Ihm ist wichtig, dass man in Westeuropa versteht: „EU, Nato: Jeder hat jetzt gesehen, dass es Putin egal ist. Alles ist ihm egal.“ Europa und die USA müssten so schnell wie möglich reagieren. Polen, Estland, Lettland, Litauen seien sonst ebenso in Gefahr. Die kleine Familie will nun abwarten und dann versuchen, über die polnische Grenze zurück nach Deutschland zu gelangen.

Panik hindert am Denken

„Panik bringt nichts“, sagt Vladimir Korbut, 45 Jahre, und warnt doch vor, dass die Telefonverbindung abbrechen könnte. Tatsächlich klingt seine Stimme ruhig, aber voller Bitterkeit. Der Anwalt aus Kiew berichtet, wie man vor Tagen in Kiew noch gescherzt habe, ob es Krieg geben würde. „Niemand hätte das im schrecklichsten Traum erwartet.“

Vladimir Korbut
Vladimir Korbut | Bild: SK

Die Lebensmittelgeschäfte seien geöffnet und Metro und Busse führen. Das gesellschaftliche Leben aber stehe still. Korbut glaubt einschätzen zu können, was Russlands Präsident vorhat. „Es gibt inoffizielle Informationen, dass der Krieg bis 2. März beendet sein soll. Er will die ukrainische Regierung stürzen und als strahlender Sieger dastehen.“ Im Moment sei es sinnlos, sich in den langen Auto-Stau einzureihen. „Aber wenn es sich beruhigt, will ich, dass Frau und Kinder in die Westukraine fliehen. Die Männer sollten bleiben – aber das werden sie auch.“