Sie war erst 15 Jahre alt, als sie ausreiste. Mit 13 Jahren soll sie begonnen haben, sich zu radikalisieren. Fast noch ein Kind. Die Umstände, wie sich die frühere Konstanzer Gymnasiastin Sarah O. radikalisieren konnte, sind nur teilweise bekannt. Die Erkenntnisse des SÜDKURIER fußen auf Informationen des Verfassungsschutzes und aus ihrem Umfeld.

Ihr Prozess begann im vergangenen Oktober, zwei Mal wurde die Verhandlung im Hochsicherheitstrakt des Oberlandesgerichts Düsseldorf schon verlängert – zuletzt bis Oktober dieses Jahres. Weil der Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet, bleiben viele Fragen offen. Was trieb Sarah in die Fänge des IS? Warum gab sie ihre Familie, ihr Umfeld in Konstanz, ihre Freunde auf?

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Eine, die es wissen kann, ist Claudia Danschke. Die frühere Journalistin arbeitet heute für die Beratungsstelle Hayat. Sie hilft Familien, deren Kinder nach Syrien ausgereist sind und jenen, die zurückgekehrt sind.

Bikultureller Hintergrund spielt oft eine Rolle

Sie sagt: „Unheimlich viele haben einen bikulturellen Hintergrund.“ Das löse gerade bei Jugendlichen häufig die Frage nach der Identität aus. Wer bin ich? Wo gehöre ich hin? Bin ich muslimisch, bin ich es nicht? Salafistische Kreise bieten Halt. Zugehörigkeit. Identität. Du gehörst zu uns, du bist Muslima. Sarahs Mutter gilt als psychisch krank. Sie konnte sich vielleicht nicht so um ihre Tochter kümmern, wie es Sarah gut getan hätte.

Sarahs Verhältnis zu ihrem Vater ist unklar. War er streng zu ihr? Hat er sie beeinflusst oder zumindest unterstützt, dass sie sich zunehmend als strenggläubige Muslima zeigte? Der Verfassungsschutz deutet an, dass er zumindest „ambivalent“ war, was die Entwicklung seiner Tochter anging.

Szenarien der Radikalisierung

Hier gibt es verschiedene Szenarien: Hat sich Sarah von ihrem Vater absetzen wollen, eine bessere Muslima sein wollen? Oder sich über ihn stellen? Ging es um eine Abnabelung von den Eltern, von der Familie, in der es Probleme gab? Oder wollte sie Anerkennung finden, weil sie sie zu Hause vielleicht zu wenig bekam?

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Für die Empfänglichkeit für die Botschaften der Salafisten ist die Beziehung zu den Eltern elementar. Fehlt Wärme und Geborgenheit, sind Jugendliche zumindest ansprechbarer, glaubt Expertin Dantschke.

Emotionale Abkapselung

Aber sie sagt auch: „Jugendliche, die sich radikalisieren, sind emotional entfremdet.“ Von der Familie, von ihrem Umfeld oder sogar von der Gesellschaft. „Sie spüren Frust, suchen Orientierung, eine Antwort auf die Frage, warum sie auf der Welt sind.“ Es ist die Suche nach ihrer Identität, einer eindeutigen Zugehörigkeit, scheint es.

Auch deshalb ist es kein Zufall, dass gerade junge Menschen den Rufen des IS folgten: „In diesem Alter sind Jugendliche oft auf der Suche.“ Die Zeit, in der die ersten Beziehungen eingangen werden und in die Brüche gehen, das Gefühl das Verlassenwerdens tut beim ersten Mal besonders weh. Oder der Verlust eines geliebten Menschen – der Großmutter oder dem eigenen Vater. Solche Erlebnisse können Jugendliche angreifbarer machen, verletzlicher.

Street Dawa im digitalen Raum

Während junge Männer häufig über die sogenannte Street Dawa rekrutiert wurden, dürfen Muslima nach den Glaubenssätzen der Salafisten nicht angesprochen worden. Sie werden stattdessen über Chats eingefangen. Das hat System. Eine Salafistin mischt sich online in Chatgruppen. Sie hört zu, gibt sich verständnisvoll, wie eine große Schwester oder die beste Freundin.

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Dann, behutsam, folgt der nächste Schritt. „Es gibt da eine andere Chatgruppe, da wirst du dich gut aufgehoben fühlen“ – so, oder so ähnlich funktionieren die Lockrufe. Einmal in der anderen Chatgruppe, wo sich Radikalisierte austauschen, verliert die Betroffene zunehmend Kontakt zu ihren alten Freundeskreisen. „Die alten Kontakte brechen stückweise weg“, macht Dantschke deutlich.

Propaganda streuen

Irgendwann geht es dann darum, die Propaganda weiterzutragen: „Du gehst den Weg des Lichts“, heißt es dann etwa – „aber deine Familie und deine Freunde, die leben in der Finsternis. Du kannst sie retten“. Es ist der nächste Schritt der Radikalisierung: Bekehre deine Nächsten oder verbanne sie aus deinem Leben. Es gibt keine Grauzone, kein Ausweichen.

Das hat seine Gründe, betont Dantschke: Solange es ein Umfeld gibt, gibt es auch eine Alternative zum IS, den Salafisten, dem Dschihad. Es gibt nur diesen einen, richtigen Weg, der zum Paradies führt. Und dort wartet das Glück. Die Alternative ist nach dieser Rhetorik ein Leben in Sünde, am Ende wartet die Hölle.

Pilgerweg in den Krieg

Und so wird die Möglichkeit, nach Syrien zu ziehen und ein guter Muslim zu sein, zu einem Pilgerweg. Die Angst vor dem Tod weicht dieser goldenen Verheißung, einem Sehnsuchtsort, den Jugendliche in ihrer Orientierungsphase so missen.

Ob in Syrien der Realitätsschock folgt, hängt von vielen Faktoren ab. Sarah hat sich über Jahre radikalisiert, Schriften studiert, Predigten im Internet gelauscht. Sie hat sich möglicherweise auf ein hartes Leben eingestellt. Auf ihre Aufgabe konzentriert. Jene, die später kamen, nennt Dantschke „Ad-hoc-Radikalisierte“.

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Sie schauten hippe Videos auf YouTube, junge Männer ließen sich häufig von dem Gefühl der Macht, den eine Waffe verleiht, der Aussicht, Teil einer Armee zu sein, dem vermeintlichen Abenteuer, in den blutigen Krieg des IS locken.

Die Suche nach Selbstverwirklichung

Dantschke geht davon aus, dass Sarah das Gefühl hatte, sich verwirklichen zu können. An dem großen Ganzen mitwirken zu können. Die Bundesanwaltschaft wirft ihr vor, Polizei- und Wachdienste übernommen zu haben. Nicht viele Frauen im IS gelangten in solche Positionen. Die meisten sollten die IS-Kämpfer versorgen, ihnen den Rücken stärken. Kinder bekommen. Die Heerschar vergrößern.

„Wenn jemand die Ideologie aufgesogen hat, wird sie durch die Erlebnisse im Krieg eher gefestigt“, so Dantschke. Für andere ist der Anblick von Menschen, die in Käfige gesteckt und mitten auf der Straße verdurstet gelassen werden, der Wendepunkt.

Sarahs Anwalt Ali Aydin sagt, seine Mandantin habe der Ideologie den Rücken gekehrt. Dafür müsste sie aussagen. Dantschke sagt, anders gehe es nicht – anders könne man die Ideologie nicht hinter sich lassen. „Der erste, der wichtigste Schritt ist, sich ehrlich zu machen.“